© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/13 / 26. April 2013

Unerhörtes ungeschminkt
Magnus Pahls Dissertation über die von Reinhard Gehlen geprägte Organisation „Fremde Heere Ost“
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Magnus Pahl, Sachgebietsleiter des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr, hat eine überarbeitete Fassung seiner Dissertation als Sachbuch vorgelegt. Wie die 1.565 Fußnoten und Hinweise belegen, fußt das Werk auf einer recht guten, wenn auch nicht vollständigen Quellenlage: dem täglichen „Lagebericht Ost“ jener Abteilung „Fremde Heere Ost“ (FHO), bei der alle Fäden der militärischen Feindaufklärung an der Ostfront zusammenliefen, deren verschiedenartigen Karteien und vielen Aufklärungsergebnissen sowie Interviews mit Zeitzeugen; sowjetische Quellen waren nur teilweise greifbar.

Spionage war in der deutschen Armee von jeher indes nicht gerne gesehen, der Offizier verstand sich als „Ritter mit offenem Visier“. FHO-Nachrichtendienst-Offiziere hatten es lange Zeit sogar schwer, sich in den Stäben durchzusetzen. Ihre Aufgabe stellte die umfassende Aufklärung der UdSSR in ihrer Gesamtheit dar. Sie umfaßte einmal die frontnahen Kräfteverhältnisse, auf dieser operativ-taktischen Ebene erwies sich die Abteilung Fremde Heere Ost als stets zuverlässig. Wichtig waren ebenfalls das Menschen- und Wirtschaftspotential sowie die Rüstungsindustrie. Ein Lagebild auf strategischer Ebene, speziell das Ergründen von Stalins Möglichkeiten und Absichten überforderte die FHO schon aus Personalmangel. Daß die Nachführung von Truppen aus Sibirien völlig verborgen blieb, lag auch allein daran, daß das Riesenreich bis zum Pazifik nicht zu kontrollieren war.

April 1942 entließ Generalstabschef Halder den Leiter der FHO. Nachfolger wurde sein Adjutant, der Generalstabs-Oberst Reinhard Gehlen. Er besaß indes keine nachrichtendienstlichen Erfahrungen, nach Beurteilung aber „organisatorisches Geschick, akribische Planungsarbeit und enormen Fleiß“. Keine Übertreibung ist die Feststellung des Autors, „kein anderer Wehrmachtsoffizier war so gut informiert über Sowjetrußland wie Gehlen“. Aber auch er hatte es schwer, sich in die Gedankengänge der sowjetischen Führung hineinzuversetzen. Er begann mit einer planmäßigen Auswertung aller Aufklärungsmittel und setzte dazu auch zivile Wissenschaftler ein. Gute Verbindung bestand zur Funkaufklärung, die auf etliche Dienststellen verteilt war. Ihre Arbeit war überaus erfolgreich, wenngleich der Funkverkehr der höchsten Führungsstellen der Roten Armee nie entschlüsselt werden konnte. Wertvolle Informationen lieferte auch die „Fremde Luftwaffe Ost“, obwohl ihre Aufklärung sich angesichts der guten Tarnung der feindlichen Streitkräfte und ihrer nur nachts erfolgenden Truppenverschiebung als recht schwierig erwies.

Der FHO waren ohnehin – systembedingt – engere Grenzen gesetzt. Im NS-Staat war vorurteilsfreies Denken schwer zu vermitteln, doch gerade diese Organisation sah ihre allerhöchste Aufgabe in der Wiedergabe eines ungeschminkten Lagebildes. Hitlers Rassen- und brutale Besatzungspolitik förderte nur den Partisanenkrieg gegen die Wehrmacht. Gehlen hingegen strebte das genaue Gegenteil an. Er wollte den weitverbreiteten Haß gegen die Stalin-Diktatur ausnutzen, trat für ein Eigenleben der Russen auf der Basis der Selbstverwaltung ein und plante, mit deren landeseigenen Verbänden das Sowjet-System zu bekämpfen. Doch erst 1944 gab es eine eigene „Russische Befreiungsarmee“ – viel zu spät, um gegen Stalin schlagkräftig zu kämpfen.

Zur gleichen Zeit befahl Hitler, die Abwehr dem Reichssicherheitshauptamt einzugliedern, während Gehlen die FHO weiterhin dem Oberkommando der Wehrmacht unterstellen wollte. Der Autor fragt sich, warum er sich auf einen nicht ungefährlichen Machtkampf mit jenem Amt einließ: Dachte er über 1945 hinaus, wollte er bewußt Distanz? Der Kriegsausgang war ihm längst bekannt, er glaubte nicht an einen Sonderfrieden, prognostizierte aber sehr früh unüberbrückbare Differenzen zwischen der UdSSR und den USA – mit letzteren erhoffte er dann eine Zusammenarbeit.

Über die Vorbereitungen zum 20. Juli 1944 war er informiert, hielt sich aber heraus: Er gab der Aktion „nur wenig Erfolgsaussichten“. Bereits einen Tag nach dem Attentat durchwühlte die Gestapo sein Büro, gefährliche Unterlagen waren indes sofort nach dem Mißlingen beseitigt worden. Während Hitler und Himmler, jetzt Leiter der „Heeresgruppe Weichsel“, einen Angriff der erschöpften Sowjetarmee für unmöglich erachteten, warnte die FHO Anfang 1945 eindringlich vor einer solchen Offensive mit Zielrichtung Berlin. Hitlers Echo über Gehlen: „Der Mann gehört in ein Irrenhaus. Das ist der größte Bluff seit Dschingis Khan!“ Er erachtete ihn für „defätistisch“, wobei er seine sachlichen Ausführungen nicht selten „sofort niederbrüllte“.

Sein lebensgefährliches Dilemma zwischen Ideologie und Nachrichtengewinnung löste er mit nüchternen Beschreibungen der Feindlage zum einen und der Hervorhebung der Leistungen der Wehrmacht andererseits. Zu Recht meint der Verfasser, diese Konzession war für ihn „(über-)lebensnotwendig“. Anfang April 1945 entließ Hitler Gehlen schließlich.

Bis zum Schluß arbeitete die FHO dennoch zuverlässig. Fehlprognosen hätten leicht Todesurteile bedeutet, andererseits stellte diese Tätigkeit eine indirekte Empfehlung an die Amerikaner dar: Inzwischen hatte Gehlen mit seinen Getreuen fünfzig Stahlkoffer mit seinen wichtigsten Unterlagen nach Bad Reichenhall gebracht, wo er noch im Mai 1945 seine Mitarbeit den US-Streitkräften anbot. Mit deren Unterstützung baute er sehr bald im Westen Deutschlands einen eigenen Auslandsgeheimdienst auf, aus dem später der Bundesnachrichtendienst hervorging.

Magnus Pahl: Fremde Heere Ost. Hitlers militärische Feindaufklärung. Ch. Links Verlag, Berlin 2012, gebunden, 464 Seiten, Abbildungen, 49,90 Euro

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