© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/13 / 26. April 2013

Vier Jahre zu früh
Mythos der Befreiungskriege: Der bereits 1809 gefallene Offizier Ferdinand von Schill wurde zur populärsten Figur des Widerstandes gegen Napoleon
Egon W. Scherer

Die Befreiungskriege 1813 bis 1815, vor jetzt 200 Jahren, warfen bereits ihre Schatten voraus. Schon in den Jahren 1808 und 1809 erlebte Napoleons Herrschaft in Europa die ersten Erschütterungen. Es begann 1808 mit dem Volksaufstand der Spanier gegen die französischen Besatzer, der dem Imperator schwer zu schaffen machte und wie ein Fanal für andere unterdrückte Völker wirkte. Die Volkserhebung schien das rechte Mittel, auch einer Übermacht zu widerstehen.

Fasziniert schaute Europa ein Jahr später auf Tirol und den Freiheitskampf seines Volkshelden Andreas Hofer, dem es 1809 gelang, mit seinen Bauernsoldaten dreimal den Feind aus dem Lande zu treiben, bis er schließlich der Übermacht unterlag. Deutschland aber erlebte 1809 ein erstes spektakuläres Aufbegehren gegen die Fremdherrschaft in dem Versuch des populären preußischen Reiterführers Ferdinand von Schill, mit seiner Truppe auf eigene Faust Krieg gegen Napoleon zu führen und damit einen Volksaufstand zu entfachen.

Wenn das Unternehmen auch kläglich scheiterte, Schill selbst schon im Mai 1809 bei Straßenkämpfen in Stralsund fiel und seine letzten Mitverschworenen, die berühmten „elf Schillschen Offiziere“, am 16. September 1809 in Wesel von den Franzosen standrechtlich erschossen wurden, so hat doch kein anderer Akteur aus der Zeit der Befreiungskriege, nicht die Militärs Blücher, Gneisenau, Yorck oder der Staatsmann Stein, die patriotische Phantasie der Deutschen so bewegt wie der Major von Schill. Der aussichtslose Befreiungskampf für ihr Vaterland wie auch die Umstände ihres Todes machten Schill und seine Offiziere zu Märtyrern der nationalen Sache.

Und der Mythos um Ferdinand von Schill und seine Getreuen hielt sich erstaunlich lange, über alle Brüche der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert hinweg. In den Befreiungskriegen zum Volkshelden geworden, sah das liberale und demokratische Bürgertum im Vormärz in Schill einen Protagonisten bürgerlicher Freiheit, fand in dem ohne königlichen Befehl handelnden Freiheitskämpfer Anknüpfungspunkte für bürgerliches Selbstgefühl.

Dann wurde Schill, als Ikone edlen Preußentums und gewissermaßen als männliches Pendant zur weiblichen Märtyrerin Preußens, Königin Luise, zu einem der Leitsterne des wachsenden Nationalbewußtseins in Preußen-Deutschland, Bismarcks Kaiserreich. Schließlich mußte das Schicksal des nationalen Märtyrers aber auch für ideologische Vereinnahmungen herhalten, wie etwa nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg, dann bei den Nationalsozialisten und zuletzt in der DDR, in der Schill zu den historischen Vorläufern gezählt wurde.

Aber auch in der heutigen Bundesrepublik ist der Major von Schill nicht ganz vergessen. In Stralsund, Braunschweig und Wesel haben sich im Laufe der Zeit lokale Schill-Traditionen herausgebildet. Diese Städte sind prägnante Stationen des Scheiterns der Schillschen Unternehmung: In Stralsund wurde Ferdinand von Schill am 31. Mai 1809 im Straßenkampf getötet, in Braunschweig wurden 14 gefangene Soldaten seines Freikorps im Juli erschossen und in Wesel fand am 16. September die Hinrichtung von elf Schillschen Offizieren statt.

Schills Aufstandsversuch von 1809 war keineswegs spontane Einzelaktion eines Draufgängers, sondern entsprach dem Geist der Zeit. In der 1808 entstandenen „Hermannsschlacht“ Heinrich von Kleists etwa wurden die Taktik des Kleinen Krieges, ähnlich der spanischen Guerilla, und in der Person Hermanns des Cheruskers der charismatische Truppenführer als Erfolgsrezept präsentiert. Und der Major von Schill, eine Art deutscher Garibaldi, erfüllte für diese Rolle alle Voraussetzungen.

Im Kriege 1806 durch einen erfolgreichen Kleinkrieg vor den Toren des belagerten Kolberg bekannt geworden, den er mit einem Freikorps aus regulären Soldaten und bewaffneten Bürgern führte, verkörperte er den kommenden Führer im bevorstehenden Freiheitskampf. Seine Popularität hatte noch gesteigert, daß Schills Regiment die erste preußische Truppe war, die im Dezember 1808 nach Abzug der französischen Besatzung wieder in die Hauptstadt einritt. Man begrüßte ihn begeistert und Berlin erfaßte ein wahres Schill-Fieber: sein Konterfei schmückte Tassen und Tabakspfeifen, und der Husarenmajor thronte als Zuckerguß auf Kuchenwaren.

Die preußischen Reformer Stein, Scharnhorst und Gneisenau standen hinter Schills Aktion, wenn Preußens König Friedrich Wilhelm III. diese auch offiziell nicht billigen konnte. Sie hatten längst ein Netzwerk der Konspiration geknüpft und Schill ermutigt, im „Königreich Westphalen“ von Napoleons Bruder Jérome Bonaparte, wo das Umfeld besonders günstig schien, die Auslösung eines Aufstandes zu versuchen. Doch als der Husarenmajor im April 1809, im Schatten des soeben beginnenden Krieges zwischen Österreich und Frankreich, mit seiner Truppe Berlin verließ und mit flammenden Appellen den Aufruhr entfachen wollte, blieb der Zuzug an Freiwilligen gering und das erhoffte Echo in der Bevölkerung aus. Schließlich zog die Truppe nach Stralsund, nahm die französisch besetzte Stadt ein und versuchte, sich in der Festung zu behaupten. Gegenüber der Übermacht eines gemischten holländisch-dänischen Korps in Napoleons Diensten aber blieben nur Niederlage und Tod. Schills Leichnam wurde enthauptet und sein Kopf als Trophäe an König Jérome gesandt.

Doch das tragische Ende tat der Popularität des Volkshelden keinen Abbruch. Von den Befreiungskriegen durch die ganze erste Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte Deutschland eine erste Hochphase seines Weiterwirkens, schien doch die Geschichte vom mutigen Aufrührer Major von Schill einen Nerv der jungen politischen Nation zu treffen. Dichter wie Friedrich de la Motte-Fouqué, Achim von Arnim, Ernst Moritz Arndt, Max von Schenkendorf, Friedrich Rückert, Emanuel Geibel und Theodor Fontane nahmen sich der Gestalt des verwegenen Husarenmajors an. Schill erschien als romantischer Held mit dem Mut zum Unbedingten, der ohne Rücksicht auf die Folgen seiner Idee diente. Achim von Arnim schrieb an Jacob Grimm: „Es giebt nach meiner Überzeugung keine That des Altertums, die größer wäre, als Schills Unternehmen.“

Behielt Schill nun im Kaiserreich seinen festen Platz im Mythenschatz der Deutschen, so wurde seine vielgepriesene radikale Opferbereitschaft für das Vaterland in der Weimarer Republik unversehens zum Leitmotiv für die jungen Nationalisten in Bündischer Jugend, völkischen Gruppen und in den Freikorps. 1923 gründete der Freikorpsführer Gerhard Roßbach die „Schilljugend“, die zeitweise von dem SA-Mann Edmund Heines geführt wurde, der später im Zuge des „Röhm-Putsches“ liquidiert wurde. 1927 bildete sich als Dissidentengruppe die „Freischar Schill“ unter der Schirmherrschaft des Schriftstellers Ernst Jünger, die eher einen nationalbolschewistischen Kurs steuerte und prompt bei Hitlers Machtübernahme 1933 verboten wurde. Im Dritten Reich aber gehörte Ferdinand von Schill zu den in Publizistik und Bildungswesen vermittelten Leitbildern. Allerdings beriefen sich auch Angehörige des 20. Juli 1944 in ihrer Gewissensentscheidung zum Ungehorsam auf den Husarenmajor.

Der Mythos um den Nationalhelden erhielt noch einmal Auftrieb durch die NS-Propaganda in der Schlußphase des Zweiten Weltkrieges. Beim drohenden Einfall des Feindes in das Reichsgebiet beschwor man den Geist von 1813, das Bündnis von Bürger und Soldat, um letzte Reserven zu mobilisieren. Neuaufgestellte militärische Formationen erhielten Schills Namen. So entstand am 20. Juli 1944 das SS-Panzergrenadier-Regiment Schill und am 20. April 1945 die Infanterie-Division „Schill“, letzte Neuaufstellung im Feldheer der Wehrmacht. Von beiden Verbänden blieb bei den Kämpfen an der Oderfront und im Großraum Berlin nicht mehr viel übrig.

Nach dem Krieg erlebte Major von Schill in der DDR eine erstaunliche Renaissance, wurde er dort doch neben den preußischen Staats- und Militärreformern den fortschrittlichen Kräften deutscher Geschichte zugeordnet. Sein Auszug ohne königlichen Befehl und sein Versuch, einen Volksaufstand auszulösen, wurden als emanzipatorische Handlungen gewertet. Schills Wertschätzung bei den Sozialisten zeigte sich in der Herausgabe einer Briefmarke (1953, im Block „Deutsche Patrioten“) und einer Gedenkmünze (1976). In der Nationalen Volksarmee (NVA) pflegte man Schills Erbe mit diversen Traditionsnamen ebenso wie im Schulunterricht des Arbeiter- und Bauernstaates.

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