© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/13 / 26. April 2013

Er plädierte für ein Öffnung zur Moderne
Philologe, Salonlöwe, faustischer Weltmann: Eine Erinnerung an den vor hundert Jahren gestorbenen Literaturhistoriker Erich Schmidt
Ulrich Seiler

Der „Juniorprofessor“, eine vermeintlich innovative Kreation bundesdeutscher Bildungspolitiker, konzipiert, um „verkrustete“ Strukturen aufzubrechen, war an wilhelminischen Universitäten, ohne jedes Reformgetöse, der Normaltyp. So wie ihn der Literaturhistoriker Erich Schmidt verkörperte, geboren 1853 und mit 21 Jahren an der Reichsuniversität Straßburg promoviert, ein Jahr darauf in Würzburg bereits habilitiert und 1880 Ordinarius in Wien, auf der nach Berlin angesehensten germanistischen Lehrkanzel des deutschen Sprachraums. Nach einem Intermezzo in Weimar, wo er 1885/86 als Direktor des neu eröffneten Goethe-Archivs amtierte, führte der Karriereweg 1887 mit Konsequenz noch steiler hinauf, auf den akademischen Olymp, als Berliner Nachfolger seines Lehrers Wilhelm Scherer.

Ob Schmidts wissenschaftliche Leistungen diese rasche Beförderung auf den Philologenthron rechtfertigten, scheint im Rückblick fraglich. Denn eigentlich war er nur der Mann des einen Buches, seiner Lessing-Biographie (1884–1892). Auch sie wäre heute vergessen, wenn nicht der wuchtige Angriff des sozialdemokratischen Theoretikers Franz Mehring gegen die „Lessing-Legende“ der „obrigkeitsfrommen Hofsänger“ des Hohenzollern-Regimes sie wie eine Mücke im Bernstein bewahrt hätte.

Daß Schmidt zudem in die erste Reihe der Goethe-Forscher vorrückte, verdankte er einem Glücksfund: dem 1887 von ihm entdeckten Manuskript des „Urfaust“. Das befestigte seine Stellung im Redaktionskollegium der historisch-kritischen Werkausgabe des Dichterfürsten, steigerte sein fachliches Renommee, aber als Editor Goethes ließ sich sowenig ein Platz im Gedächtnis der Nachwelt erobern wie als Herausgeber Lessings, der gesammelten Schriften Otto Ludwigs, der Gedichte Ludwig Uhlands, der Briefe Caroline Schlegels oder jener Periodika und Buchreihen, in denen er die Dissertationen seiner Schüler beerdigte. Schmidts „Charakteristiken“ (1886–1901) schließlich, zwei starke Bände, versammeln Reden und Essays, viele davon im Plauderstil, Dichterfreunde wie Theodor Storm, Theodor Fontane und Heinrich Seidel preisend, aber schwerlich geeignet, den Gelehrtenruhm des Autors zu mehren.

Trotzdem ist Erich Schmidt, Dauergast der Wiener und Berliner Salons, omnipräsenter, von Kaiser Wilhelm II. gern „mit Genuß“ gehörter Rhetor wie umtriebiger Wissenschaftsmanager und Jubelrektor der Berliner Universität zum 100. Geburtstag 1910, als repräsentativer „Wilhelminer“ keineswegs in die Besenkammer germanistischer Fachgeschichte zu entsorgen.

Der „schöne Erich“, der sich auf dem Katheder oft im Profil zeigte, damit nicht zuletzt die im Auditorium reichlich vertretene Damenwelt sich von seiner Ähnlichkeit mit Goethe überzeugen konnte, ist wie sein technikbegeisterter Kaiser durchaus ein Protagonist der Moderne gewesen. Das beweist sein Einsatz für literarische Neutöner wie Henrik Ibsen, für Hermann Sudermann und Gerhart Hauptmann, deren „Naturalismus“ ältere Kollegen, für die deutsche Literaturgeschichte spätestens mit Goethes Tod endete, nach dem Staatsanwalt rufen ließ.

Schmidt hingegen, neugierig und aufgeschlossen, plädierte schon 1880 in seiner Wiener Antrittsvorlesung dafür, sich nicht nur inhaltlich zu öffnen, fort vom dominanten Mittelalter, sondern auch methodologisch wegzukommen vom philologisch-sprachhistorischenSpezialismus, hin zur Literatursoziologie, zur Rezeptionsgeschichte, zur Erforschung des Anteils von „Stamm und Landschaft“ an der Literaturproduktion, wie sie später durch Josef Nadler realisiert wurde, hin zur Erhellung politischer und religiöser Kontexte und endlich sogar zur „Rolle der Frauen“ und des „Geschlechtsunterschieds“ in der Dichtung.

In solcher zukunftsträchtigen Programmatik, an die sich der Gelehrte Schmidt zu eigenem Schaden selbst selten hielt, steckte eine satte Portion weltmännischer Unvoreingenommenheit, die sich auch im Umgang mit dem jüdischen Nachwuchs bewährte. Als „Türöffner“ der Juden in der Deutschen Philologie schmähte ihn deshalb der völkische Literaturhistoriker Adolf Bartels, der darauf verwies, daß einflußreichste Berliner Kritikerpäpste wie die Juden Alfred Kerr, Monty Jacobs und Arthur Eloesser unter seinen Doktoranden zu finden waren.

Politisch ging der häufige Gast auf der kaiserlichen Yacht „Hohenzollern“ konform mit den imperialen Aspirationen der wilhelminischen Führungsschichten. Als Germanist, der zur geistigen Selbstvergewisserung der Kulturnation beitragen wollte, sah sich Schmidt eingespannt in die erzieherische Aufgabe der „Festigung des Nationalcharakters“, ohne den, wie auch Max Weber predigte, das Kaiserreich seine „Weltmission“ nicht würde erfüllen können.

Im Oktober 1909, bei seiner Begrüßung des ehemaligen US-Präsidenten Theodore Roosevelt (1858–1919) in der Berliner Universität, in Anwesenheit Wilhelms II., legitimierten Rektor Schmidts Wortgirlanden den preußisch-deutschen wie den Imperialismus der Vereinigten Staaten als Verwirklichung desselben „wehrhaften Lebensideals“. Dem von „ehernem Nationalstolz“ erfüllten „Rauhreiter“, dem einstigen „in jedem Sinn schlagkräftigen Polizeigouverneur New Yorks“, sei es aus seiner Lektüre deutscher Dichtung, die vom Nibelungenlied bis zu Goethes „Faust“ den Tatmenschen verherrliche, hinlänglich bekannt.

Schmidt, der „Repräsentationsgermanist des Deutschen Kaiserreichs“ (Karl O. Conrady) skizzierte hier mit wenigen Strichen seine und die Weltanschauung seiner ebenso „faustisch“ konditionierten Altersgenossen Wilhelm II. und Roosevelt. Der nur wenig jüngere Universalgelehrte Max Weber benötigte für ein ähnliches Bekenntnis zum faustischen Dynamismus mehr Worte, aber er meinte dasselbe wie der am 29. April 1913 verstorbene Erich Schmidt, wenn er die Deutschen ermunterte, Weltpolitik zu treiben, um ihre nationalen Kräfte zu entfesseln und der Gefahr geistig-seelischer Erstarrung zu entgehen, mit der das „Massenzeitalter“ sie bedrohe.

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