© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/13 / 12. April 2013

Sintflut per Ananas-Expreß
US-Forscher prognostizieren für Kalifornien nicht nur Megabeben, sondern auch eine nasse Katastrophe
Helmut Nagel

Kalifornien ist eine beliebte Projektionsfläche für Katastrophenszenarien. Die schlimmsten Befürchtungen erzeugt die San-Andreas-Verwerfung, eine über tausend Kilometer lange, bis nach Mexiko reichende Nahtstelle zwischen amerikanischer und pazifischer Kontinentalplatte. Komme es dort abermals zu markanten tektonischen Verschiebungen, erwartet man Bewegungen, mit denen verglichen sich das 1906 San Francisco verwüstende Erdbeben wie der Einsturz eines Maulwurfshügels ausnehmen werde.

Der Hydroklimatologe Michael Dettinger (Scripps Institution of Oceanography) und die Geowissenschaftlerin Lynn Ingram (University of California/Berkeley) ließen sich jedoch von solchen Horrorszenarien nicht in den Bann schlagen und sind beim Blättern in der Katastrophenchronologie ihres „Golden States“ auf Bedrohungen handfesterer Art gestoßen (Spektrum der Wissenschaft, 4/13). Ganz vergessen sei die „große Flut“ der Jahreswende 1861/62, als man an der Ostküste vollauf mit dem Bürgerkrieg beschäftigt war. Zu Weihnachten 1861 begann es zu regnen, und es hörte 43 Tage lang nicht auf, bis das Wasser das 500 Kilometer lange und 150 Kilometer von der Pazifikküste entfernte Central Valley in ein Binnenmeer verwandelt hatte. Die Hauptstadt Sacramento ähnelte Venedig, Tausende Menschen und 200.000 Rinder ertranken. Die Schäden, die diese schlimmste Überflutung in der überlieferten US-Geschichte hinterließ, verursachten einen kalifornischen Staatsbankrott.

Bei Untersuchungen von Sedimenten des Gezeitenmarschlandes rund um die San-Francisco-Bucht fand Ingram heraus, daß ein solches Riesenunwetter eher den Normalfall an der amerikanischen Westküste darstellt. Ihre Bohrkerne offenbarten sechs dicke graue Lehmschichten, die, bei aller Unsicherheit der von ihr zur Datierung verwendeten Radiokohlenstoffmethode, von sechs Megafluten in den Jahren 212, 440, 603, 1029, 1418 und 1605 n. Chr. zeugen. Für die Berkeley-Geologin beglaubigt dieses Resultat ein Grundmuster: Alle 200 Jahre überschwemmen gewaltige Wassermassen Kalifornien. Folglich dürften sich in diesem Jahrhundert die Himmelsschleusen abermals weit auftun.

Die Suche nach den Ursachen dieses verheerenden Wetterphänomens setzte erst unlängst ein und blieb zunächst im Rahmen konventioneller meteorologischer Forschung. 1998 entdeckten Wissenschaftler der US-Wetterbehörde breite Schichten von hoher Luftfeuchtigkeit, 15.000 Meter über dem Pazifik. Bildhaft nannten sie derartige, bis zu 400 Kilometer breite und Tausende Kilometer lange Formationen aus Wasserdampf „atmosphärische Flüsse“.

Diese „Fließbänder“ transportieren die zehn- bis fünfzehnfache Wassermenge des Mississippi aus den Tropen in die mittleren Breitengrade. Erreicht so ein gewaltiges Band die Kaliforniens Osten abschirmende Bergkette der Sierra Nevada, steigt die feuchte Luft auf, kühlt sich ab und beschert dem Tiefland eine Sintflut. Im Grunde sei der Mechanismus an der Westküste bekannt, da kleinere „Bänder“ des von Hawaii kommenden „Ananas-Express“ sich alljährlich für einige Tage über Kalifornien ausschütten, aber bislang, selbst bei den regnerischen Heimsuchungen von 1958, 1964, 1969 und 1986, nur schwach an das Inferno von 1861 erinnerten.

Auf den ersten Blick scheinen sich in dieser Weltregion über Jahrtausende ausschließlich natürliche Prozesse zu vollziehen, die mit ihrer Beständigkeit jeder These von menschlich induzierten Klimaveränderungen hohnsprechen. Doch Dettinger gelang es, auch diese so erratisch außerhalb des von globaler Erwärmung geprägten „Anthropozäns“ dahinziehenden „atmosphärischen Flüsse“ in den aktuellen Diskurs über den Klimawandel einzubetten. Denn nach sieben maßgebenden Klimamodellen sei, so warnt der US-Wissenschaftler, von einem realistischen Temperaturanstieg um drei Grad bis 2100 auszugehen.

Da wärmere Luft mehr Wasserdampf speichere, transportieren die Himmelsflüsse zukünftig mehr Feuchtigkeit. Die nach Kalifornien beförderten Schnee- und Regenmengen nehmen daher bis 2100 um zehn Prozent zu: „Es werden atmosphärische Flüsse von noch nie dagewesener Stärke auftreten.“ Nach diesen Modellrechnungen würden im Katastrophenfall die meisten Niederungen Nord- und Südkaliforniens überschwemmt. Etwa 1,5 Millionen Menschen wären zu evakuieren, die Sachschäden und Ernteverluste müßten wohl auf 400 Milliarden Dollar taxiert werden. Eine Schadenssumme, die sich infolge der langfristigen Unterbrechung der Wirtschaft fast verdoppeln könnte. Und das wäre ein Betrag, dreimal so hoch wie die 250 Milliarden, die das Katastrophenszenario „Shakeout“ für den Tag X prognostiziert, an dem es am Andreas-Graben zu einem Erdbeben mit der Stärke von 7,8 auf der Richterskala käme. Eine moderate Annahme, beim Beben 1906 waren es 8,3.

In den USA sei man nach Dettingers Ansicht auf die Gefahr einer Riesenflut, die eben viel wahrscheinlicher sei als das unentwegt beschworene Erdbebenrisiko, nicht einmal notdürftig vorbereitet. Daß sich diese Wassergefahr realisieren werde, steht für Dettinger außer Frage. Die meteorologische Forschung könne nur ihre Vorhersagen verbessern und angemessene Vorsorge anmahnen. Um die solle man sich auch an anderen Westküsten kümmern: In Chile, Australien, Südwestafrika und selbst in Spanien.

Für Europa, so pflichtet ihm der Berliner Meteorologe Sven Titz bei, mindere der Sperr-Riegel des Azorenhochs zwar die Bedrohung ganz erheblich, aber seine britischen Kollegen hätten zweifelsfrei festgestellt, daß seit 1970 die zehn stärksten Winterfluten auf der Insel genauso von Ausläufern atmosphärischer Flucht verursacht worden seien wie die massiven Regenfälle im November 2009, als in der nordwestenglischen Grafschaft Cumbria binnen drei Tagen 150 Liter pro Quadratmeter niedergingen.

Fragwürdig an Dettingers Modell ist jedoch die These vom Verstärkereffekt des Klimawandels. Denn die ohne Treibhauseffekt entstandene Flut von 1605 soll nach geologischen Berechnungen mindestens um 50 Prozent größer ausgefallen sein als alle anderen Riesenfluten.

„Spektrum der Wissenschaft“ 4/13 spektrum.de

Unwetterszenario der US-Geographiebehörde USGS für die kalifornische Westküste: urbanearth.gps.caltech.edu

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