© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/13 / 12. April 2013

Paris und Moskau wollten die Eskalation
Christopher Clarks Analyse über den Weg in den Ersten Weltkrieg liegt bislang nur auf englisch vor
Werner Lehfeldt

Christopher Clark, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Cambridge, hat sich in Deutschland bereits durch seine Geschichte Preußens (2007) und seine Biographie Wilhelms II. (2008) einen Namen gemacht. Auch sein neues Werk „Die Schlafwandler. Wie Europa 1914 in den Krieg zog“ sollte so bald wie möglich ins Deutsche übersetzt und in unserem Land möglichst breit und gründlich rezipiert werden, handelt es sich bei ihm doch um eine Darstellung des in den Ersten Weltkrieg führenden Weges, die zahlreiche Klischeevorstellungen gerade zur Rolle Deutschlands durch eine fundierte und oft neuartige Analyse in Frage stellt.

Im ersten Teil konzentriert sich der Autor auf Serbien und Österreich-Ungarn als die beiden Staaten, deren Konflikt mit der Ermordung des österrei-chisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand und dessen Gemahlin in Sarajevo am 28. Juni 1914 die „Julikrise“ auslösen sollte. Mit diesem Auftakt unterstreicht Clark seine Ansicht, es sei erforderlich, „Sarajevo und den Balkan zurück in den Mittelpunkt der Geschichte zu rücken“.

Aufschlußreich ist sein Hinweis, daß ein Geschehen aus der jüngeren Vergangenheit mit dafür den Ausschlag gegeben habe, die Rolle Serbiens beim Kriegsausbruch neu zu beleuchten: Durch das Massaker von Srebrenica und die Belagerung Sarajevos habe sich „unser moralischer Kompaß“ verschoben, habe es sich als problematisch erwiesen, Serbien als bloßes Objekt oder gar Opfer der Politik der großen Mächte anzusehen. Vielmehr müsse der serbische Nationalismus als eigenständige historische Kraft betrachtet werden.

Ausführlich wird die Planung des Attentats von Sarajevo durch den Chef des Abwehrdienstes des serbischen Geheimdienstes, Oberst Dragutin Dmitrijević-Apis, beschrieben. Über diese Planung sei der Ministerpräsident Nikola Pašić „fast sicher“ informiert gewesen, nach dessen Ansicht nur ein europäischer Konflikt unter Beteiligung der Großmächte die großen Hindernisse beseitigen konnte, die der serbischen „Wiedervereinigung“ im Wege standen. Durch die Morde von Sarajevo sei der „Auslöser“ betätigt worden, den die russische und die französische Außenpolitik mit ihrer gegen Österreich-Ungarn und damit bewußt und absichtsvoll gegen dessen Verbündeten Deutschland gerichteten Stoßrichtung bis zum Sommer 1914 auf dem Balkan installiert hatten.

Im zweiten Teil konzentriert sich der Autor auf die Analyse der Entwicklung, die zu dieser „Balkanisierung“ der Außenpolitik Rußlands, Frankreichs und auch Großbritanniens geführt hat, das heißt auf die Beschreibung und Analyse der zunehmenden außenpolitischen Isolierung Deutschlands ab den 1890er Jah-ren, die er ohne Scheu als „Einkreisung“ bezeichnet. Hier werden zahlreiche, gerade auch in Deutschland verbreitete und gern geglaubte Vorstellungen in Frage gestellt, etwa die Ansicht, daß der Bau einer deutschen Hochseekriegsflotte und die deutsche „Weltpolitik“ die englischen Politiker zum Anschluß an die französisch-russische Allianz veranlaßt hätten.

Auf keinen Fall kann nach Clarks Auffassung an der einst weitgehend akzeptierten Ansicht festgehalten werden, Deutschland habe seine außenpolitische Isolierung durch ein „unerhörtes internationales Verhalten“ selbst bewirkt. Verglichen mit den imperialen „Raubzügen“ der USA seien die konkreten Ergebnisse der deutschen „Weltpolitik“ nach 1897 sehr bescheiden ausgefallen.

Tatsächlich erklärt sich die Annäherung Großbritanniens an Rußland nach Clarks Ansicht hauptsächlich aus dem Bestreben der führenden englischen Politiker, die Bedrohung durch Rußland in Asien durch ein Bündnis mit dieser Macht zu mindern. „Die Furcht vor der Aussicht, einen mächtigen Freund zu verlieren, wurde verstärkt durch die Angst, einen mächtigen Feind zu bekommen.“ Obwohl sich diese Hoffnung zunehmend als irrig herausstellte, wurde an ihr bis zum Kriegsausbruch festgehalten. Was Deutschland selbst anbelangt, so war die Außenpolitik des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg gekennzeichnet durch den Wunsch, mit Rußland und Großbritannien ein Verhältnis unauffälliger und pragmatischer Zusammenarbeit zu etablieren. Niemals ist die deutsche Außenpolitik vor 1914 von dem Ziel geleitet worden, einen Präventivkrieg gegen welche Macht auch immer auszulösen.

Ausführlich wird die „Balkanisierung“ der französisch-russischen Allianz behandelt, in deren Verlauf Frankreich Rußland carte blanche für den Fall eines Krieges zusicherte, der sich aus einem österreichisch-serbischen Konflikt ergeben sollte. Insbesondere der französische Staatspräsident Raymond Poincaré verstärkte mit dieser Politik, die gegen Deutschlands Bemühen um Entspannung mit Rußland gerichtet war, die offensive Orientierung der französischen militärischen Planung. In Rußland selbst träumte Außenminister Sergei Sazonov davon, Deutschland mit „der größten Allianz der Menschheitsgeschichte“ entgegenzutreten und es einzudämmen, obwohl von Deutschland keinerlei Bedrohung für Rußlands Sicherheitsinteressen ausging.

Nach dem Attentat von Sarajevo wurde Österreich das Recht bestritten, Maßnahmen irgendwelcher Art gegen Belgrad zu ergreifen. In die „Balkanisierung“ der französisch-russischen Allianz ließ sich auch Großbritannien einbeziehen, dessen Außenminister Edward Grey vom Beginn seiner Amtszeit 1906 an eine zunehmend antideutsche Politik verfolgte, deren Hintergrund „das Schauspiel von Deutschlands titanischem ökonomischen Wachstum“ bildete. „Überall, wo man hinblickte, sah man die Konturen eines ökonomischen Wunders.“

Nach den Morden von Sarajevo war es das Bestreben der österreichischen und der deutschen Politik, den Konflikt auf den Balkan zu beschränken. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, daß die führenden deutschen Politiker die Krise als willkommene Gelegenheit angesehen hätten, einen langgehegten Plan umzusetzen, um einen Präventivkrieg gegen Deutschlands Nachbarn auszulösen. Das Ziel der Konfliktbeschränkung mußte jedoch scheitern, denn die durch das At-tentat entstandene Krise „entsprach exakt dem balkanischen Eröffnungsszenari-um“, das die französisch-russische Allianz über zahlreiche Diskussionen und Gipfeltreffen in den vergangenen Jahren „als den optimalen casus belli festgelegt hatte“, einem Szenarium, das konsequent umgesetzt wurde und in den Kriegsausbruch mündete.

Nach Niall Fergusons Buch „Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert“ (1999) stellt Christopher Clarks Werk „Die Schlafwandler“ einen weiteren bemerkenswerten Beitrag zur Erforschung des Weges in den Ersten Weltkrieg dar, in dem die Vorkriegspolitik der Ententemächte, insbesondere Rußlands und Frankreichs, aber auch Großbritanniens, äußerst kritisch analysiert wird. Wenn dieses Werk, was zu hoffen steht, in deutscher Übersetzung erscheint, wird es in unserem Land gewiß ein breites Echo finden und – hoffentlich – zu vertiefendem Nachdenken über die immer noch verbreitete These von Deutschlands „Alleinschuld“ am Kriegsausbruch führen.

Christopher Clark: The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914. Allen Lane. An imprint of Penguin Books, London 2012, gebunden, 697 Seiten, 25,95 Euro

Foto: Der französische Außenminister Raymond Poincaré hat mit Zar Nikolaus II. (Bildmitte auf der Treppe) eine Parade abgenommen, Rußland im Juli 1914: Die Krise als den optimalen „casus belli“ festgelegt

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