© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/13 / 12. April 2013

Die ungelesenen Kriegsgefangenen
Die Verhandlungen mit Warschau und Moskau über die Rückgabe geraubter Bücher aus Nachkriegsdeutschland treten auf der Stelle
Jürgen W. Schmidt

Nach der Kriegsniederlage 1945 gingen viele deutsche Bibliotheks- und Archivbestände in russische und polnische Hände über. Teils fielen sie in vormals deutschen Gebieten in die Hände der Sieger, teils wurden sie nach Kriegsende durch „Trophäenkommissionen“ aus Deutschland abtransportiert. So befand sich beispielsweise der dritte Band der „Denkwürdigkeiten“ von Reichskanzler Hohenlohe in der Privatbibliothek des Verfassers dieses Artikels gemäß seiner Besitzstempel einst im Bestand der Stadtbibliothek von Königsberg/Ostpreußen. Von dort gelangte er in die Bibliothek des Historischen Instituts der Universität Warschau, bevor er als „Dublette“ ausgesondert wurde und auf ungeklärten Wegen zu Beginn der neunziger Jahre in ein Berliner Antiquariat geriet. Ebenso ist die sogenannte „Berlinka“, 1942 bis 1944 wegen Bombengefahr ins schlesische Kloster Grüssau ausgelagerte Bestände der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin an wertvollen Handschriften und Drucken, noch heute ein Zankapfel zwischen Polen und Deutschland. Dabei scheint Warschau zunehmend auf die Kraft des Faktischen und den langsam erlahmenden deutschen Widerstand zu setzen.

Zu „Perestroika“-Zeiten brach man in der Sowjetunion erstmals das Tabu um Büchertrophäen aus Deutschland, als das Leningrader Lokalfernsehen 1989, nach vorherigen Hinweisen aus der Bevölkerung, einen Dokumentarbericht über eine geheimnisvolle Dorfkirche im Leningrader Gebiet sendete. Ende 1945 waren hier zahlreiche Lkw vorgefahren und schweigsame Männer lagerten etwas ein. Als die TV-Journalisten an jener Kirche anlangten, konnten sie das mit massiven Vorhängeschlössern gesicherte Gebäude zwar nicht betreten, doch durch ein defektes Seitenfenster das Innere ausleuchten, welches sich wegen eines kaputten Daches und Taubenbefall in desolatem Zustand befand. In der Kirche lagerten riesige Bücherstapel. Als man eines der Bücher durch das Fenster herauszog, erwies es sich als „Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reiches“ mit dem Besitzstempel der Universitätsbibliothek Jena.

Ebenso wie umfangreiche Bücherbestände gingen 1945 historisch bedeutsame Aktenbestände in sowjetischen Besitz über. Gewisse Aktenbestände erhielt die DDR nach jahrelangen Unterhandlungen zurück, so im Dezember 1988 tonnenweise militärhistorisch bedeutsame Akten aus dem einstigen Reichsarchiv Potsdam, dessen Bestände beim alliierten Bombardement am 14. April 1945 keinesfalls so vollständig vernichtet worden waren, wie man lange glaubte. Daß man seitens der Sowjetunion nicht alles dort vorhandene Aktenmaterial zurückgab, bewies dabei allein schon der Umstand, daß unter jenes militärische Aktenmaterial aus dem 19. Jahrhundert und dem Ersten Weltkrieg wohl durch Schlamperei auch deutsche Dokumente aus dem Zweiten Weltkrieg geraten waren.

Ebenso lief es, als Rußland an Frankreich zu Beginn der neunziger Jahre Aktenbestände des französischen Außenministeriums zurückgab, die von Deutschland 1940 erbeutet und seinerzeit zur Durchsicht und propagandistischen Auswertung in ein schlesisches Schloß verbracht worden waren, wo sie 1945 in sowjetische Hände fielen. Auch hier waren einige deutsche Akteneinheiten unter das zurückgegebene französische Material geraten.

Zu einem wahren deutsch-russischen Trauerspiel entwickelte sich hingegen der Streit um den 70.000 Seiten umfassenden Nachlaß von Außenminister Walther Rathenau, welcher 1992 in Rußland auftauchte. 1997 übergab Boris Jelzin an Bundeskanzler Kohl elf der Aktenmappen, und 2004 stellte der Kulturminister Schwydkoi gar die vollständige Rückgabe in Aussicht. Doch bereits 2005 ging man russischerseits davon aus, daß es sich bei jenem Nachlaß um eine „kompensatorische Restitution“ für russische Kriegsschäden handle, als könnte die Einbehaltung deutscher Aktenbestände die kriegsbedingten Verluste an russischem Archivgut ersetzen.

Unterstützt wurde die zunehmend widerborstige Haltung amtlicher russischer Stellen durch die zögerliche Haltung der deutschen Politik, denn weder Bundeskanzler Schröder noch Bundeskanzlerin Merkel haben sich je entschieden in die immerhin laufenden Rückgabeverhandlungen eingemischt. Welche Bedeutung viele der in Rußland zurückgehaltenen, der deutschen historischen Forschung deshalb oft unzugänglichen Akten haben, kann man am dort vermuteten Nachlaß von Reichskanzler Kurt von Schleicher thematisieren. Nach Schleichers Ermordung am 30. Juni 1934 wurde dieser, ähnlich wie der von Walther Rathenau, durch die Gestapo beschlagnahmt und ging wahrscheinlich 1945 mitsamt den anderen Akten des Reichssicherheitshauptamtes in sowjetische Hände über. Für die Geschichte der Machtergreifung Adolf Hitlers wären jene Dokumente, vorausgesetzt sie existierten noch, von hoher Bedeutung. Doch ungeachtet aller hehren Sonntagsreden hat die deutsche Politik bislang keine besonderen Aktivitäten gezeigt, die letzten „Kriegsgefangenen“ des Zweiten Weltkriegs zurückzuholen.

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