© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/13 / 12. April 2013

„Der Schatten-ESM“
Von der Öffentlichkeit unbemerkt bereitet die Politik einen neuen, milliardenschweren Rettungsschirm vor. Ein einzelner Bundestagsabgeordneter, der CDU-Politiker Klaus-Peter Willsch, hat dies nun öffentlich gemacht
Moritz Schwarz

Herr Willsch, was bitte ist ein „Schatten-ESM“?

Willsch: Im Schatten des 2012 beschlossene Euro-Rettungsschirms, ESM genannt, wird derzeit und von der Öffentlichkeit fast unbemerkt – also auch das quasi im Schatten – der nächste Schritt zur Vergemeinschaftung von Schulden in Europa vorbereitet.

Wie das?

Willsch: Der ESM hat einen „Nachteil“: Damit können nur Staaten „gerettet“ werden, die Mitglied des Euro sind. Es gibt aber zehn EU-Länder – ab 1. Juli mit Kroatien elf –, die nicht im Euro sind, etwa Rumänien oder Bulgarien.

Moment, das finanzielle Volumen des ESM ist bereits mehr als doppelt so groß wie der deutsche Bundeshaushalt. Und jetzt sollen noch mehr Staaten gerettet werden?

Willsch: Das ist die Idee.

Warum? Länder, die nicht im Euro sind, können seine Stabilität auch nicht bedrohen.

Willsch: Richtig.

Und warum wird es trotzdem gemacht?

Willsch: Ich glaube, das hängt mit der „Europa kann nur mit mehr Integration gelingen“-Ideologie zusammen, nach der Stillstand Rückschritt ist. Danach ist die EU wie ein Fahrrad: Entweder man tritt in die Pedale oder man fällt um.

Offiziell heißt der Schatten-ESM „Fazilität des finanziellen Beistands für Mitgliedsstaaten, deren Währung nicht der Euro ist“.

Willsch: Klingt ziemlich kompliziert, nicht? „Fazilität“ ist ein Fachausdruck aus der Finanzsprache und bezeichnet die Möglichkeit, kurzfristig Kredite in Anspruch zu nehmen. Also etwa: Finanzbeistandspakt für Nicht-Euro-Staaten.

Wie soll das funktionieren?

Willsch: Indem der Mechanismus des ESM auf den neuen Schatten-Rettungsschirm übertragen wird.

Konkret?

Willsch: Also zunächst mal: Wie hat das vor Beginn der Euro-Rettung funktioniert? Folgendermaßen: Ein Land, das sich zu hohe Schulden erlaubt, gilt dem Markt als unsicher. Daher muß es, wenn es Geld leiht, höhere Zinsen zahlen. Dieser teurere Zins zwingt es nun, seine Ausgaben zu reduzieren, um stabiler zu werden und wieder Zinsen zu günstigeren Konditionen zu erhalten.

Also ein disziplinierender Effekt.

Willsch: Genau.

Und jetzt?

Willsch: Jetzt haben wir den ESM. Durch ihn besteht die Möglichkeit, seine Schulden zu vergemeinschaften statt abzubauen, eben indem man Hilfsgelder aus seinem Topf beantragt. De facto bedeutet das, daß man seine Kreditwürdigkeit verbessert, und zwar indem man die Kreditwürdigkeit der solventeren Staaten in Europa – die für den ESM garantieren – zu seinen Gunsten wirken läßt.

Und so soll nun auch der Schatten-ESM gestaltet werden?

Willsch: Sie haben es verstanden.

Und woher kommt das Geld dafür?

Willsch: Nominell dürfen die Summen für den Schatten-ESM eigentlich nicht extra aufgebracht werden, sondern sind im Rahmen des EU-Haushaltes bereitzustellen. Das heißt natürlich, sie fehlen dann an anderer Stelle. Das ist schon nicht schön, aber noch schlimmer allerdings ist es, daß die Kommission ermächtigt wird, hierfür Ableihen zu geben. Dies steht im Widerspruch zum Verschuldungsverbot der EU.

Sie warnen, die Vorbereitungen für den Schirm „laufen auf Hochtouren“. Wann kommt er genau?

Willsch: Das kann ich noch nicht einschätzen, weil der Bundestag bisher nicht eingebunden ist. Ich arbeite dran.

Tatsächlich existiert ein System gegenseitiger Finanzhilfen schon seit 1972. Gibt es den Schatten-ESM also nicht schon längst?

Willsch: Eine berechtigte Frage. Aber die Antwort ist nein. Zwar wurde in der Tat ein – absolut sinnvolles – System gegenseitiger Hilfe schon lange vor dem Euro geschaffen, aber es unterschied sich entscheidend vom geplanten Schatten-ESM: Denn die dort geleisteten Hilfen waren tatsächlich nur Liquiditätshilfen. Konkret ging es um Überbrückungsgelder für Staaten in Zahlungsbilanzschwierigkeiten, die vorübergehend illiquide waren – getragen zu zwei Dritteln vom IWF. Die Gelder wurden anschließend zurückgezahlt. Jetzt dürfte es in Anlehnung an die Praxis in der Eurogruppe nicht mehr nur um vorübergehende Unterstützung für temporär illiquide, sondern auch um insolvente Staaten gehen, die ihre Schulden dauerhaft auf die Gemeinschaft abwälzen. Was eigentlich laut Maastricht-Vertrag verboten war. Also: Im Falle Lettlands etwa war die Hilfe angemessen, denn Lettland konnte damit wieder auf die Beine kommen. Im Fall Griechenlands dagegen sind die Zahlungen im Grunde Insolvenzverschleppung.

In einem Gastbeitrag für das „Handelsblatt“ sprechen Sie von einem „neuen Milliarden-Euro-Risiko für Deutschland“. Wie gefährlich ist der Schatten-ESM konkret?

Willsch: Offiziell beträgt das geplante Volumen fünfzig Milliarden Euro.

Spielt denn das bei einem ESM-Volumen von 700 Milliarden Euro noch eine Rolle?

Willsch: Ganz ehrlich: Wenn ich so etwas höre, verschlägt es mir die Sprache. Ihnen ist offensichtlich das dahinterstehende Haftungsrisiko nicht ganz klar.

Mit wieviel haftet denn Deutschland?

Willsch: Gemäß dem deutschen Anteil am EU-Haushalt, also mit rund zwanzig Prozent. Aber was mich erschreckt, ist die Leichtfertigkeit Ihres Einwandes. Offenbar ist Ihnen die Dramatik der Lage in Europa gar nicht bewußt! Andererseits, Ihre Haltung ist typisch, sie erscheint mir sogar das eigentliche Problem zu sein: Zu Beginn der Krise 2008/2009 galt das Herauspauken insolventer Staaten noch als etwas Außergewöhnliches, als Ultima ratio. Aber inzwischen haben wir uns an den Ausnahmezustand als Normalzustand gewöhnt, es ist eine „Rettungsroutine“ eingetreten. Und so geht uns heute jedwede weitere Rettung, die ja stets mit einer enormen Verschuldung einhergeht, immer leichter von der Hand. Was früher undenkbar war, wird heute umstandslos abgenickt. Das läßt befürchten, daß bei einer weiteren krisenhaften Zuspitzung jede „Rettungs“-Summe, auch über das eigentlich festgelegte Maximum hinaus, quasi bis ins „Unendliche“, möglich sein wird.

Bis eines Tages die Blase platzt?

Willsch: Bis eines Tages die Blase platzt. Wobei Ihr erschreckender Einwand, der alle Relationen vermissen läßt, im Grunde sogar richtig ist, denn tatsächlich fußt die Euro-Rettung ja bereits längst nicht mehr auf einer finanzpolitisch soliden Basis, sondern auf der Macht der EZB, Geld zu drucken. Wir brauchen Extra-Milliarden für einen Schatten-ESM? Kein Problem, Herr Draghi drückt einfach einen Knopf und sie sind da.

Welchen Sinn hat es dann überhaupt noch, sich über den Schatten-ESM aufzuregen?

Willsch: Wieder eine sehr berechtigte Frage. Aber als Volksvertreter versucht man eben sein Bestes. Deshalb warne ich trotz allem vor dem Gefahrenpotential dieser weiteren fünfzig Milliarden Euro, zumal ich skeptisch bin, daß es überhaupt bei dieser Summe bleibt.

Inwiefern?

Willsch: Wie schon bei der Euro-Rettung – die begann mal mit 80 Milliarden, stieg dann über 440 Milliarden auf heute 700 Milliarden – ist die Summe bis jetzt ständig angewachsen: Erst waren es 12, dann 25, jetzt sind es bereits 50 Milliarden. Wissen wir, daß es dabei bleibt?

Gibt es Anzeichen für eine Ausweitung?

Willsch: Leider ja, zum Beispiel hat die zuständige Berichterstatterin im Europäischen Parlament bereits davon gesprochen, daß durchaus auch sechzig Milliarden Euro gestemmt werden könnten. Sie sehen, es wird schon weitergedacht. Und spätestens, wenn ich lese, daß eine Ausweitung des Schirms allein auf dem Verordnungswege möglich sein soll, schwant mir, was noch kommen wird.

Was bedeutet das genau?

Willsch: Daß – im Gegensatz zum normalen ESM – eine Ausweitung der Summen ohne jede Beteiligung der Parlamente möglich sein wird.

Also eine Selbstermächtigung?

Willsch: Sie sagen es. Und das ist immer noch nicht alles. Was mich weiterhin verunsichert, ist folgender Übersetzungsfehler im Vertragswerk: Im britischen und im französischen Text ist von insgesamt fünfzig Milliarden Euro die Rede. Im deutschen Text dagegen von fünfzig Milliarden pro Land! Das würde bei derzeit zehn Nicht-Euro-Ländern nicht 50, sondern 500 Milliarden Euro bedeuten!

Wie bitte?

Willsch: Sie haben richtig gehört. Es stellte sich allerdings heraus, daß die deutsche Version falsch übersetzt worden ist. Aber es macht mich mißtrauisch, daß es im quasi entscheidenden Punkt einen Übersetzungsfehler gab, der dramatische Auswirkungen hätte haben können. Und: Der Übersetzungsfehler wurde bis heute nicht korrigiert.

Sie vermuten Absicht?

Willsch: Nein, das unterstelle ich nicht. Aber es bestärkt mich in meinen Erfahrungen. Die Euro-Rettung lehrt uns, daß es keine Rolle spielt, was in den Verträgen steht. Not kennt kein Gebot! Einmal geschaffene Regeln werden notfalls ignoriert, abgeschafft oder nach Belieben ausgeweitet. Es gibt in Europa einfach niemanden mehr, der die Einhaltung der Gesetze und Verträge noch einfordert.

Bisher haben nur „Wirtschaftswoche“ und „Handelsblatt“ über den Schatten-Schirm berichtet, beide unter Berufung auf Sie. Wie haben Sie ihn überhaupt entdeckt?

Willsch: Jede Woche bekommen wir Parlamentarier Tausende von Seiten an Unterlagen. Dort fand sich in den Dokumenten des Bundesrates, der dem Vorhaben ja auch zustimmen muß, die entsprechenden Zahlen.

Also versteckt in den Akten?

Willsch: „Versteckt“ intendiert Vorsatz, das will ich nicht unterstellen. Nein, im Grunde ist das schon der übliche Ablauf hier im Bundestag.

Allerdings ...

Willsch: Ja, ich weiß, was Sie sagen wollen. Es stimmt: Allerdings hätte ich mir wegen der besonderen Brisanz gewünscht, daß das Vorhaben hervorgehoben worden wäre, um sicherzugehen, daß die Abgeordneten es auch wirklich zur Kenntnis nehmen.

Es ist bei „mehreren tausend Seiten pro Woche“ nicht anzunehmen, daß sie das tun.

Willsch: Nein, Sie haben recht.

Warum also ist eine solche Hervorhebung nicht erfolgt?

Willsch: Ich denke schon, daß man ein Interesse daran hat, das Ganze möglichst unspektakulär über die Bühne zu bringen.

Nun weiß der Bundestag, spätestens durch Sie, davon. Dennoch scheint er die Sache nicht an sich zu ziehen. Versagt das Parlament – nach den vom Bundesverfassungsgericht erzwungenen Nachbesserungen am Lissabon- und am ESM-Vertrag – erneut?

Willsch: Ich halte es in der Tat nicht für vertretbar, daß wir als Parlament die Gestaltung der Sache der Regierung überlassen. Es stimmt, wir haben vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen der von Ihnen genannten Urteile deutliche Signale bekommen, daß wir die Haushaltssouveränität zu erhalten haben.

Eigentlich, so sagen Sie, sei der Schatten-ESM sogar verboten. Warum?

Willsch: Es gibt mehrere Studien, die das nahelegen. Etwa hat bereits 2009 das renommierte Centrum für Europäische Politik festgestellt, daß die EU mit der „Stützung der Zahlungsbilanz von Mitglied- oder Drittstaaten über Anleihen ... ihre Kompetenzen überschreitet“. Mit dem Schatten-ESM wird der bereits fortgesetzte Rechtsbruch institutionalisiert. Nachdem für die Euro-Zone der Weg in die Schuldenunion geebnet worden ist, sollen nun auch die Nicht-Euro-Länder ins Boot geholt werden. Das sind dramatische Entwicklungen und sie vollziehen sich unbemerkt von der europäischen Öffentlichkeit.

 

Klaus-Peter Willsch, gilt als „Entdecker“ des sogenannten „Schatten-ESM“, eines Rettungsfonds für Nicht-Euro-Länder, der von Politik und Medien – obwohl seine Vorbereitung auf „Hochtouren“ (Willsch) läuft – beschwiegen wurde, bis im Februar unter Berufung auf Willsch die Wirtschaftswoche erstmals darüber berichtet hat. Der Haushaltsexperte Klaus-Peter Willsch gilt als Kopf der Euro-Rettungskritiker in der Unions-Fraktion. Gemeinsam mit dem Bund der Steuerzahler und weiteren Bundestagsabgeordneten gründete er 2012 die „Allianz gegen den ESM“. Willsch ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages und Beisitzer im Vorstand der Fraktion sowie stellvertretender Vorsitzender der hessischen Landesgruppe. Seit 2000 sitzt er außerdem im Landesvorstand der hessischen CDU. Geboren wurde der Volkswirt, ehemalige Angehörige des Senats der Fraunhofer-Gesellschaft und Herausgeber des Rheingau-Taunus Monatsanzeigers 1961 in Bad Schwalbach in Hessen.

www.klaus-peter-willsch.de

Foto: Lauernde Gefahr: „Im Schatten der Euro-Rettung wird still und leise der nächste Schritt zur Schulden-Vergemeinschaftung vorbereitet ... nun geht es um die EU-Länder, die nicht im Euro sind“

 

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