© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/13 / 05. April 2013

CD: Tocotronic
Gestöhne der Verzweiflung
Georg Ginster

Als Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank im Jahr 1993 ihre Band Tocotronic gründeten, hatte Helmut Kohl seine letzte gewonnene Bundestagswahl noch vor sich und Berti Vogts bereitete die Nationalmannschaft mit Lothar Matthäus als Kapitän auf die WM in den USA vor. Bonn war unverändert Sitz von Regierung und Parlament, Ace of Base und Culture Beat dominierten die Charts, und Wolfgang Lippert scheiterte als Interims-Moderator von „Wetten daß ...?“ Es war die Hochzeit des kurzen gesamtdeutschen Biedermeiers.

In einer Zeit jung zu sein, in der die Elterngeneration für fast alles Verständnis aufbringt, ist noch nie ein Kinderspiel gewesen. Vor 20 Jahren leistete Tocotronic von diesem Schicksal gezeichneten Gleichaltrigen Lebenshilfe, die sie der Band noch heute mit unerschütterlicher Treue vergelten. Wo andere sich in die Beliebigkeit hinein schrill, aber konform inszenierten, posierten die drei Musiker als wohlbehütete Milchbubis, die pubertären Sinnkrisen mal nölig und larmoyant, mal krachend Ausdruck verliehen und bewußt keinen Wert darauf legten, stylisch zu sein. Gerade damit sind sie stilbildend geworden.

In den Jahren ihres Zusammenwirkens hat die Band genug an zeittypischen oder vielleicht sogar noch heute relevanten Liedern fabriziert, daß sich damit eine ganze „Best of“-CD füllen ließe. Präsentieren würde sie allerdings vor allem Höhepunkte aus der ersten Hälfte der Tocotronic-Geschichte, die in dem weißen Album einen krönenden Abschluß fand. Gerade eben waren die Bandmitglieder in ihr viertes Lebensjahrzehnt eingetreten, und man durfte auf ein fulminantes Alterswerk hoffen. Diese Erwartung sollte sich jedoch nicht erfüllen. Das Konzept Tocotronic war ausgereizt und hallt seither zählebig nur noch in gestelzten Versen und drögen Melodien nach.

Das Hinzukommen des Amerikaners Rick McPhail im Jahr 2004 erweiterte zwar noch einmal das musikalische Potential. Abgerufen wurde es jedoch nicht mehr. Tocotronic ist zur Mahnung verkommen, daß das zunehmende Alter die Gefahr einer mentalen Erstarrung und einer schleichenden Entfremdung vom Leben birgt. Die heitere und zweckfreie Ironie der Anfänge ist einer blasierten und angemaßten Bedeutungsschwere gewichen, die sich in Stereotypen und schiefen Bildern intellektueller Leichtgewichter erschöpft.

Den derzeitigen Tiefpunkt dieser Entwicklung stellt die neue CD „Wie wir leben wollen“ (Universal Music) dar; er wird, so ist zu befürchten, nicht der finale sein. Sie läßt sich nur noch als Verzweiflungsgestöhne des erschöpften Individuums rechtfertigen, das sich in der Reflexion über sich selbst begrifflich nicht mehr zu erfassen versteht. „Hey / Ich bin jetzt alt / Hey / Bald bin ich kalt / Im Keller wartet / Schon / Der Lohn“.

Warum im Keller? Und wartet dort der Lohn, bloß weil er sich auf „schon“ reimt? Es scheint die romantische Utopie, daß man die Wahrheit in sich selbst findet, zu sein, die Dirk von Lowtzow leitet, wenn er seine holprige Lyrik über inspirations- und spannungsfreie Schlagerklänge haucht. Wo Leere herrscht, kann man jedoch schlecht aus dem vollen schöpfen. Über der CD schwebt die rhetorische Frage, ob dies denn alles wirklich Mittelmaß ist. Man wird der Band nicht die Antwort geben können, die sie gerne hören möchte.

Tocotronic, Wie wir leben wollen Universal Music, 2013

www.universal-music.de
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