© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/13 / 05. April 2013

Neues Gespür für das Wesentliche
Avantgarden und ihre Gegner: Kritik der modernen Kunst – gibt es das heute noch? / Welche Maßstäbe sollen gelten? / Dritter und letzter Teil der JF-Serie
Felix Dirsch

Bereits seit Jahrzehnten vermißt man eine durchschlagende, von namhaften Kennern vorgetragene Kritik der modernen Kunst, die in der Lage wäre, das dieser zugrundeliegende Menschen-, Welt und Gottesbild aufzuspüren. Dieses Fehlen läßt etliche Gründe erkennen. Vor rund fünfzig Jahren ist die Kunst ins postmoderne Stadium eingetreten, das auch dadurch charakterisiert ist, daß sich ihre Verschwisterung mit dem utopistischen Fortschrittsglauben langsam zu lösen beginnt. Kunst ist „heute, ähnlich wie die Alchemie, funktionslos geworden und offenbar erloschen“ (Giulio Carlo Argan). Ihre gesellschaftliche Macht ist deutlich verringert.

In etlichen Staaten Europas gibt es um 1960 maßgebliche Indikatoren eines evidenten Wertewandels: Der Wohlstand steigt, die individuellen Freiheiten, Mobilität und Disponibilität des einzelnen nehmen zu. Diejenigen (meist für Bürgerliche anstößigen) Lebensformen, die ehemals hauptsächlich für Avantgardisten charakteristisch waren, werden immer mehr zum Massenphänomen und verlieren somit ihr Provokationspotential.

Die unterschiedlichen wissenschaftlichen Konzepte, die stets eine Art von mentalem Überbau zur Lebenswelt darstellen, können sich diesen Veränderungen kaum verschließen. Was immer sie unter Moderne verstehen: die Kritik an dieser wird seit 1960 weithin obsolet. So gibt es in der Politologie keinen Eric Voegelin mehr, der in luziden Studien die innerweltlichen Erlösungsdoktrinen der Moderne (von den Puritanern über Comte bis zu Heidegger) als „Gnosis“ herausstellt. Die „nachkonziliare“ Theologie, die meist den liberalen Zeitgeist glorifiziert, hat keine Gestalt wie den „vorkonziliaren“ Romano Guardini hervorgebracht, dessen Abhandlung „Das Ende der Neuzeit“ diese Epoche einer Prüfung unterzieht.

In der Kunstgeschichte existiert nirgends ein Denker vom Schlage Hans Sedlmayrs, der grundlegende Motive der Kunst als Indikatoren des Verfallsprozesses der Moderne seziert. In der Architekturtheorie ist ein Paul Schultze-Naumburg Fehlanzeige. Er stellt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der fast ausschließlich funktionalistisch ausgerichteten Architektur der Moderne das heimat- und erdverbundene Bauen entgegen. Freilich kommt sein scharfes Verdikt gegen den „Kretinismus“ der NS-Diffamierung in manchen Punkten nahe.

Wer füllt das Vakuum, das diese Gelehrten hinterließen? Der Berliner Publizist Frank Lisson wandelt in seiner Streitschrift „Homo absolutus. Nach den Kulturen“ auf den Spuren Nietzsches, Spenglers und anderer Kulturkritiker. Der Verfasser verteidigt in aphoristischem Stil die partikularen Kulturen gegen die Öde der Globalisierung. Im besonders studierenswerten Kapitel über „Kunst und Musik“ beklagt er die Tendenz von Gesellschaften im „zivilisatorischen“ Stadium, den Kulturverlust als Fortschritt zu feiern. Er betrachtet den Künstler nicht höheren Zwecken verpflichtet, sondern dieser müsse darum ringen, den Stoffen ihre adäquate Gestalt zu geben. Nivellierung sei für den Künstler schädlich. Die Zeit der Schöpfungsakte liege „hinter uns“.

Lisson postuliert ein neues Gespür für das Wesentliche. Negativ bewertet er zudem den Verlust künstlerischer „Opposition zum Leben“ und den Hang vieler Künstler, die Popularität anstelle der Einsamkeit zu wählen, den Frieden mit der Gesellschaft, die ihn oft gut bezahlt, gegenüber der Provokation zu bevorzugen. Die materielle Versorgung sei eher Gift. Der Ausblick des engagiert-zugespitzt argumentierenden Autors ist düster: „Nach den Kulturen ist der Künstler überflüssiger und bedeutungsloser denn je geworden.“ Der Künstler diene mehr oder weniger nur noch zur Befriedigung der Massenbedürfnisse.

Anders als „Spengler redivivus“ stellt sich der junge österreichische Publizist und Filmemacher Martin Lichtmesz in die Tradition katholisch-konservativer Kulturkritik. Für der 49. Ausgabe der Zeitschrift Sezession verfaßte er den kurzen, aber aussagekräftigen Essay „Wach ablösen“. In diesem Beitrag kritisiert er die an der Wiener U-Bahnhaltestelle Museumsquartier ausgestellten 18 Bleistiftzeichnungen des Künstlers Rudi Wach. Sie bilden verformte Gestalten ab, die von fern an Menschen erinnern. Die überproportional groß gezeichneten Hände und Füße sowie die verbogenen Körper und Beine, die wie Drähte wirken, verkörpern verkrüppelte Figuren. Da mutet es ein wenig lächerlich an, wenn nach Aussage des Künstlers das Lebendige wie auch das Humane aufgewertet werden sollen.

Lichtmesz stellt ferner allgemeine Überlegungen an, was gute Kunst ausmache. In Anlehnung an Sedlmayr verweist er auf die Unentbehrlichkeit eines Seinskosmos, der der Kunstproduktion zugrunde liegen müsse. Ohne einen solchen Maßstab versinke Kunst in Beliebigkeit und Anarchie. Auch die Frage „Wozu“ wird gestellt. Er sieht es als alarmierend, wenn Kunst zum Feind übergelaufen sei und sie dem Menschen vermittelt, „daß es keinen Gott gebe und er ein miserables, zufälliges Stück Zellmaterie sei“.

Noch gehaltvoller als die lesenswerten Darlegungen von Lisson und Lichtmesz sind die Veröffentlichungen des inzwischen über neunzigjährigen, mehrfach geehrten Kunsthistorikers Richard W. Eichler, der bis vor kurzem noch publiziert hat. Von seinen früheren Untersuchungen ist „Könner, Künstler, Scharlatane“ (1959) besonders erwähnenswert.

In diesem Buch thematisiert der Sudetendeutsche die alte Problematik von modernen Künstlern und schizophrenem Weltgefühl. Mißbrauch desavouiert nach Eichler nicht grundsätzlich begründete medizinische Einwände. Er beruft sich unter anderem auf den vor 1945 anerkannten Nervenarzt Hans Prinzhorn, der eine bedeutende Sammlung von einigen tausend Gemälden Geisteskranker zugänglich machte.

Weiterhin präsentiert Eichler exemplarisch, was als „Entmenschlichung des Menschen“ in der Kunst kursiert. Kritische Seitenblicke auf Dada, Surrealismus, Konstruktivismus und andere verdeutlichen die Stoßrichtung. Im Schlußteil lobt der Verfasser Künstler, die als „Revolutionäre für ewige Dinge“ fungierten und „gegen die Überschätzung des Zeitgeistes“ einträten – ein von Prinzhorn übernommenes Zitat, das aber sehr auf Eichlers Gewährsmann Sedlmayr hinweist.

1985 erscheint (bezeichnenderweise im rechten Grabert-Verlag) „Der gesteuerte Kunstverfall“. In dieser im Dialogstil gehaltenen Darstellung tritt Eichler selbst in einer fiktiven Gerichtsverhandlung auf. Grund der Anklage gegen ihn: sein angebliches Lob der NS-Angriffe auf die „Entarteten“. Alles dreht sich um die Grundfrage: Darf die moderne Kunst auch noch nach der Münchner Schandausstellung von 1937 kritisiert werden? Bereits 1968 kommt die Schrift „Viel Gunst für schlechte Kunst“ auf den Markt, die einige besonders geschmacklose Beispiele der Gegenwartskunst anführt. Auch mit einigen Documenta-Ausstellungen geht der Autor ins Gericht.

Wer eine erfrischend-gelehrsame, mitunter auch polemische Auseinandersetzung mit moderner wie zeitgenössischer Kunst sucht, ist auf die Streitschriften Eichlers angewiesen. Wiewohl er nicht zu den großen Geistern gerechnet werden kann, ist in der neueren Literatur Vergleichbares schlicht nicht zu finden. Das läßt noch einmal den Stellenwert der Modernekritik in den letzten Jahrzehnten erkennen.

Foto: „Die Geburt“, Zeichnung von Rudi Wach: Ausgestellt in der U-Bahn-Station Museumsquartier in Wien

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