© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/13 / 05. April 2013

Anatomie eines Versagens
Der „Fall Smolensk“ im Europäischen Parlament: Kritiker fordern internationales Untersuchungsverfahren
Christian Rudolf

Smolensk und kein Ende: Für den Mittwoch der Karwoche hatten polnische Europa-Abgeordnete der Kaczyński-Partei PiS die Aufführung eines Dokumentarfilms über die Flugzeugkatastrophe am Sitz des Europäischen Parlaments in Brüssel organisiert. Für die stetig mehr werdenden Zweifler an der offiziellen Version der Vorgänge vom 10. April 2010 war der Kino-Nachmittag ein voller Erfolg: Der Film „Anatomie eines Absturzes“ der Warschauer Investigativjournalistin Anita Gargas läßt ein Dutzend russischer Zeugen aus der westrussischen Großstadt Smolensk zu Wort kommen, die an der noch fliegenden Präsidentenmaschine eine Explosion und Feuer gesehen haben wollen. Und er zeigt schonungslos bis zur Schmerzgrenze Schwäche und unbegreifliche Versäumnisse der polnischen Ermittlungen auf.

Unter den Fragen der so charmanten wie hartnäckigen Gargas muß der polnische Militärstaatsanwalt Zbigniew Rzepa kleinlaut Details der – von Regierungsseite vielgepriesenen, angeblich so überragend guten – Zusammenarbeit russischer und polnischer Ermittler zugeben: Beim Abhören der Stimmenrecorder in Moskau hörten russische Spezialisten das Tonband über Kopfhörer ab, während die Polen im Hintergrund – immerhin – zusehen durften. Wie war der Tresor, in dem das Band über Nacht gesichert wurde, versiegelt? Mit einem Stückchen Papier, das Rzepa unterschrieb. Das wie befestigt wurde? „Mit Klebstoff.“

Abgeordnete sowie Beamte des EU-Parlaments und der Kommission sowie Diplomaten vieler Staaten sahen die vielleicht schockierendsten Bilder – vom Abtransport der Flugzeugtrümmer, der jeder Beschreibung spottet: Noch an der Absturzstelle machen sich russische Räumungskräfte mutwillig an die Zerstörung der Wrackteile, zerschneiden Kabel, zerschlagen Fenster, Bagger reißen noch vorhandene Großteile auseinander. Das moddrige Waldgelände, 400 bis 500 Meter von der Landebahn des Flugplatzes entfernt, wird von schwerem Gerät durchpflügt. Anwesende polnische Ermittler erhielten nicht einmal die Erlaubnis, das Gebiet zu umschreiten.

Die Reaktion des anwesenden Vertreters Rußlands, Aleksandr Chlopjanow, auf diese Aufnahmen ist nicht überliefert. Aber „der Westen wird die Wahrheit über Smolensk kennenlernen“, zeigte Europa-Abgeordneter Ryszard Czarnecki (PiS) sich sicher. „Es gibt schon zu denken, wenn ein Staat, der Mitglied der EU ist, über fast drei Jahre nicht in der Lage ist, eine ordentliche Untersuchung zu führen und die Frage eindeutig zu beantworten, was Ursache dieser Tragödie war“, sagte Rafał Dzięciołowski, Mitautor des Films, der JUNGEN FREIHEIT. Seine Hoffnungen richten sich auf eine unabhängige internationale Untersuchung.

In der Tat sind Enttäuschung und Skepsis vieler Polen über das zaghafte, bisweilen auch unwillig wirkende Agieren der Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk sowie der federführenden Militärstaatsanwaltschaft groß. Fast zwei Drittel der Polen sprechen sich inzwischen für eine Internationalisierung des Verfahrens aus. Zu lang ist noch immer die Liste ungeklärter Fragen rund um den Komplex (JF 8/13), zu bizarr der Dilettantismus bei den Smolensk-Ermittlungen, zu unglaublich die Pannen, die Zweifel an der Wahrhaftigkeit der eigenen Behörden nähren. Fest steht mittlerweile, daß an Teilen des Wracks Sprengstoffreste nachgewiesen wurden – was von den Tusk nahestehenden Medien nicht an die große Glocke gehängt wurde. Erst im vergangenen Monat waren polnische Experten abermals in Smolensk, um Proben zu nehmen. Bestätigt wurden die polnischen Untersuchungen durch unabhängige Laboranalysen in den USA: am eingeschickten Sicherheitsgurt haften eindeutig Spuren von TNT, das explodiert war.

Völlig unverständlich auch ist für Kritiker wie den Vorsitzenden der Parlamentariergruppe zur Untersuchung der Katastrophe, Antoni Macierewicz, weshalb ein Tonband mit Aufzeichnungen des Funkverkehrs zwischen dem Smolensker Tower und den Piloten der abgestürzten Tupolew 154M auch fast drei Jahre nach der Katastrophe noch immer nicht veröffentlicht oder auch nur abschließend untersucht wurde. Das Band entstammt einer polnischen Jak-40, die an jenem Unglückstag vor der des polnischen Präsidenten noch landen konnte und ist das einzige Beweismittel, das nicht durch die Hände der Russen gegangen ist.

Der Film der beim Publikum wegen ihrer Unbestechlichkeit ohnehin beliebten Anita Gargas verkaufte sich in Polen seit Januar über 100.000mal. Am 8. April wird er vom Ersten Programm des polnischen Staatsfernsehens TVP erstmals ausgestrahlt. Beobachter erwarten für den 10. April die bislang größten Demonstrationen von Gegnern einer Schlußstrich-Mentalität im Fall der Katastrophe. Warschau bereitet sich auf den Ansturm von Zehntausenden vor. Deren Motto: „Wir fordern die Wahrheit über Smolensk!“

Dokumentarfilm „Anatomie eines Absturzes“ mit deutschen Untertiteln: http://de.gloria.tv

Foto: Gedenkstätte im südpolnischen Kałków: Am dritten Jahrestag der Katastrophe machen sich Zehntausende auf den Weg nach Warschau

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