© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/13 / 29. März 2013

Zu früh verzweifelt
Der Historiker Joseph Wulf beging aus Angst vor der Verdrängung des Schicksals der Juden im Dritten Reich Selbstmord
Uwe Ullrich

Er öffnete am 10. Oktober 1974 in Berlin-Charlottenburg das Fenster und stürzte sich auf die Straße. Der Auschwitz-Überlebende und autodidaktische Historiker Joseph Wulf beging Suizid, weil er befürchtete, daß die Juden nicht mehr als Gruppe mit Verfolgungserfahrung wahrgenommen werden würden und das Verbrechen an den Juden aufgrund der allgemeinen Aussöhnungsstimmung in einer Gewaltgeschichte des Zweiten Weltkrieges verschwinden würde.

Der vom Überlebenskampf lebenslang schwer gezeichnete Mann wurde 1912 in Chemnitz geboren, wuchs in Krakau auf und ließ sich dort zum Rabbiner an der Jüdischen Hochschule ausbilden. Die Deportation nach Auschwitz überlebt er und flieht nach vier Jahren Haft auf dem Todesmarsch. Zunächst in Polen geblieben, engagiert sich Wulf für die Auswertung aufgefundener Dokumente über jüdisches Leben und Sterben in Polen. 1947 emigrierte er über Paris, um sich fünf Jahre später in Berlin niederzulassen.

Anfangs wirkte Joseph Wulf als Mitarbeiter der „Bundeszentrale für Heimatdienst“. Durch seinen Zugriff auf Akten aus dem Dritten Reich entstehen zahlreiche Dokumentationsbände. Sie werden zwar zur Kenntnis genommen, aber bringen dem Außenseiter nicht den erhofften Erfolg und Aufsehen.

Mehrere Versuche in den sechziger Jahren Anschluß an die intellektuelle Elite zu finden, waren erfolglos. Versuche, in näheren Kontakt zu Karl Jaspers, Golo Mann und Marcel Reich-Ranicki zu treten, scheiterten. Gleichermaßen war das Verhältnis mit Ernst Jünger gekennzeichnet. Er ordnete den Schriftsteller zwar während der Weimarer Republik als rechtsstehend ein und vermutete in ihm den geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus, aber ihm imponierte die konsequente Abkehr vom Regime. Nach einigen Treffen mit Jünger war Wulf an regem geistigen Austausch interessiert, dem der Schriftsteller reserviert begegnete. Die Briefe stellen „ein kurioses Dokument der intellektuellen Zeitgeschichte dar, waren die beiden doch in fast allen angesprochenen Fragen unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Ansicht“.

Klaus Kempter legt mit seiner Studie erstmals einen umfassenden Lebensbericht über Joseph Wulf vor. Der Text spürt dem Schicksal eines fast vergessenen frühen Mahners nach, der zu einer Zeit das Gedenken an jüdische Opfer einforderte, bevor dieses in der Bundesrepublik richtig Konjunktur bekam. Wulf in seine Zeit zu stellen und die Facetten seines Scheiterns offenzulegen, ist das Verdienst des Autors.

Klaus Kempter: Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013, gebunden, 422 Seiten, Abbildungen, 64,99 Euro

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