© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/13 / 29. März 2013

Der ostdeutsche Phantomschmerz
Ein amerikanischer Historiker untersuchte den Umgang der Schlesier mit dem Schicksal des Heimatverlusts und kam zu bemerkenswerten Ergebnissen
Peter Börner

Nur wenige unter den heute lebenden Deutschen können Schlesien auf einer Landkarte finden, ebensowenig haben eine Ahnung von 700 Jahren deutscher Geschichte, die sich in den Grenzen des heutigen Polens abgespielt hat.“ Dies schrieb nicht etwa ein erbitterter alter Schlesier, sondern ein junger Amerikaner, und zwar in seiner vor kurzem (2012) erschienenen Doktorarbeit. Er gab ihr den Titel: „The Lost German East. Forced Migration and the Politics of Memory, 1945–1970“, was man mit „Der verlorene deutsche Osten. Erzwungene Migration und Gedächtnispolitik“ übersetzen könnte.

Das Hauptthema des inzwischen an der Universität von Alabama lehrenden Jungprofessors Andrew Demshuk ist aber nicht die von ihm mit großem Befremden und mit Sorge beobachtete „Geschichtslosigkeit“ (wörtlich!) der Deutschen, sondern eine andere ihn überraschende Tatsache: daß es den Millionen entwurzelter, seelisch verwundeter, im Westen nicht willkommener Ostdeutscher – immerhin ein Fünftel der westdeutschen Bevölkerung! – gelungen war, mit dem Verlust ihrer Heimat fertig zu werden, so daß unser Land innenpolitisch stabil blieb und es sogar zu einer schrittweisen Aussöhnung mit den Bewohnern der Vertreiberstaaten kam. Wie war das möglich?

Um der Sache auf den Grund zu kommen, studierte Demshuk nicht nur die Fachliteratur. Er lernte auch ordentlich Deutsch (und Polnisch) und vertiefte sich in Quellen. Das waren für ihn vor allem die Heimatzeitungen, Heimatbücher, Berichte über Heimattreffen, auch mündliche Aussagen von Betroffenen. Um sein Arbeitsfeld überschaubar zu halten, konzentrierte er sich auf die Zeitspanne von 1945 bis 1970, auf die Schlesier, die es nach Westdeutschland verschlagen hatte; speziell die Breslauer, Liegnitzer, Bunzlauer, Brieger und Oppelner nahm er in den Blick.

Das Ergebnis seiner Forschungsarbeit legte er in neun Kapiteln vor. Der umfangreichen Einleitung, die eine vorweggenommene sehr lesenswerte Gesamtzusammenfassung ist, folgt ein Kapitel über die Geschichte Schlesiens und der Schlesier bis zum Kriegsende. Darin macht er nicht nur den bis dahin unbestreitbar deutschen Charakter des Landes deutlich (mit behutsamen Abstrichen bei Oberschlesien), er geht auch mutig auf heikle Punkte ein, wie die schwierige Situation der Deutschen und anderer nationaler Minderheiten im Polen der Zwischenkriegszeit.

In Hinblick auf die Leiden der deut-schen Oberschlesier, die nach 1921 zu polnischen Staatsbürgern dritter Klasse geworden waren, berichtet er von Schikanen, Enteignungen, ungerechtfertigten Entlassungen und dem Druck, das Deutschtum aufzugeben oder die Heimat zu verlassen. Aus einer britischen Quelle von 1929 zitiert er: „Das Ziel dieses systematischen Terrors ist natürlich die Ausrottung (exterminate) der deutschen Minderheit so schnell wie möglich.“

Der Autor befaßt sich anschließend mit der menschenverachtenden Politik der Nationalsozialisten im besetzten Polen und ebenso eindringlich mit dem tragischen Schicksal der Schlesier in den Jahren 1945 bis 1947, das in seinen Augen so schlimm war, daß sie „heimwehkrank in der Heimat“ wurden.

Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die folgenden drei Kapitel, in denen es um das Leben der im Westen angekommenen Schlesier geht und vor allem um die Frage, wie es ihnen gelungen ist, ihren Heimatverlust seelisch zu verarbeiten. Die Überschriften lassen seinen Lösungsansatz bereits erkennen: „Wohnen in der Erinnerung“, „Private Konfrontation mit dem Verlust“ – „Die Heimattreffen: Ein Wiedererschaffen des verlorenen Ostens in Westdeutschland“ – „Reisen ins Land der Erinnerung: Heimweh-Touristen im polnisch gewordenen Schlesien“.

Demshuk kommt zu einem doppelten Ergebnis: Zum einen konnten diese Menschen den Verlust ihrer Heimat bewältigen, weil sich ihnen die Möglichkeit bot, sich im Westen eine Art Ersatz-heimat zu schaffen, durch ihre Heimatzeitungen, durch die Arbeit an und die Lektüre von Heimatbüchern und vor allem durch die Möglichkeit des Zusammenseins und des Austauschs mit alten Freunden, Bekannten und Verwandten, besonders bei den Heimattreffen in ihren Patenstädten, wo man in vertrauten Gesprächen bei gegenseitigem Erinnern, beim gemeinsamen Betrachten alter Fotos, Landkarten und Bildbände über die Heimat, mit den heimatlichen Gegenständen in der Heimatstube und beim gemeinsamen Anschauen von Lichtbildern sich die Heimat zurückholte und wieder zu einem beglückenden Gemeinschaftserlebnis werden ließ.

So richtete man sich in einer „Heimat der Erinnerung“ ein, die bis in die Gegenwart hinein fortlebte und sogar eine Art „Heimatboden“ an den Erinnerungsorten der Patenstädte fand. Der Autor verdeutlicht dies anschaulich am Beispiel der Bunzlauer in ihrer Patenstadt Siegburg, indem er auf das von dortigen Heimatfreunden Anfang der sechziger Jahre geschaffene Bühnenbild der Heimatstube mit markanten Bauwerken der Heimat verweist und indem er die Rolle des „Brieger Turms“ in Goslar untersucht.

Ein ganz anderes, weniger angenehmes „Heilmittel“, um sich mit dem Verlust abzufinden – damit kommt Demshuk zum zweiten Teil seiner Erklärung –, waren die Wahrnehmungen der Heimatvertriebenen bei den immer zahlreicher werdenden „Heimat-Reisen“, bei welchen sich der oft idealisierten „Heimat im Gedächtnis“ eine inzwischen völlig veränderte „Heimat der Wirklichkeit“ gegenüberstellte. Er nennt sie die heimat transformed im Unterschied zur heimat of memory. Während die erinnerte Heimat Trost bot und sogar eine Art Wohnen in ihr (reside) ermöglichte, machte die durch Kriegsfolgen und Neubesiedlung schmerzlich umgestaltete Heimat der Gegenwart den Vertriebenen unabweisbar klar, daß es für sie nur noch ein zeitliches, aber kein räumliches Zurück gab. Dies führte bei den allermeisten schon bald zu einer ausgesprochen realistischen Haltung in der Grenzfrage.

Damit nimmt der Autor die Heimatvertriebenen ganz bewußt in Schutz vor Anfeindungen, sie seien Ewiggestrige, Revisionisten, ja Revanchisten (gewesen). Er sieht allerdings einen wohl zu starken Gegensatz zwischen den Stellungnahmen der Wortführer und Anführer (spokesmen und leaders) und der Einstellung und dem Verhalten des „Fußvolks.“ Denn dabei übersieht er, daß aufgrund des Potsdamer Abkommens die Grenzfrage bis hin zu den Ostverträgen 1970 und im weiteren Sinne bis 1990 im völkerrechtlichen Sinne offengeblieben war und sich zahlreiche deutsche Politiker und keineswegs nur „Revanchisten“ und „Vertriebenenfunktionäre“ ganz zu Recht darauf berufen konnten.

Im Schlußteil der Arbeit würdigt der US-Wissenschaftler den bedeutenden, ja ihm geradezu einzigartig erscheinenden Anteil der Heimatvertriebenen bei der Aussöhnung mit den Nachbarn im Osten und überhaupt beim Offenhalten des geistigen Horizonts nach Osten. „Überall im wiedervereinigten Deutschland stößt man auf eine weitverbreitete Unwissenheit über Schlesien, ganz zu schweigen über Polen als Ganzes. Das gilt besonders für die Deutschen der jungen und mittleren Generation. Damit besteht erneut die Gefahr des alten selbstgefälligen Geredes, jetzt nur eingehüllt in moderne Worthülsen.“ Viele Heimatvertriebene sorgen dafür, daß es ganz anders geht.

Sollte dieses Buch eine Fortsetzung erhalten, müßte die spannende Geschichte des Beitrags der Heimatvertriebenen für den Frieden in Europa in der Zeitspanne 1970 bis heute genauer dargestellt werden, und es müßten dann auch die Schlesier im sowjetischen Machtbereich (DDR, Volkspolen) zu Wort kommen, die keine Heimatzeitungen, keine Heimattreffen, ja nicht einmal die Möglichkeit einer offenen Aussprache hatten. Wie sind sie mit dem Heimatverlust fertig geworden? Aber zunächst sollte das Buch ins Deutsche übersetzt werden. Denn es hat eine große Leserschaft verdient!

Andrew Demshuk: The Lost German East. Forced Migration and the Politics of Memory. Cambridge University Press, New York 2012, gebunden, 324 Seiten, 68,90 Euro

Foto: Schlesier beim „Tag der Heimat“ in der Berliner Waldbühne, September 1967: „Heilmittel“, um sich mit dem Verlust abzufinden

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