© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/13 / 22. März 2013

Ein Kämpfer für die Erneuerung des Einzelnen
Vor 350 Jahren wurde der Theologe August Hermann Francke geboren: Mit der vom großen Hallenser Pietisten gegründeten Armenschule
Karlheinz Weissmann

In einem zeitgenössischen Bericht über die Begegnung zwischen Friedrich Wilhelm I. von Preußen und August Hermann Francke vom April 1713 wird folgender Wortwechsel wiedergegeben: „König: Aber die Jungens, macht er denen nicht weis, daß sie der Teufel holen werde, wenn sie Soldaten werden? – Francke: Ich kenne manchen christlichen Soldaten. Ich habe mehr Freunde und Gönner unter den Soldaten, als unter den Geistlichen. Diese können nicht vertragen, daß ich ihr Tun nicht in allen Stücken billige.“

Inhalt wie Ton des Gesprächs sind bezeichnend, lassen etwas erkennen vom ernsthaften Glauben des Königs, der sehr wohl wußte, wie schwer Gewaltanwendung mit dem Christentum zu vereinbaren ist, und von seinem Respekt vor dem Theologen, dessen Predigten er stehend anhörte, den aber seine geistige Selbständigkeit gegenüber den anderen evangelischen Theologen immer wieder zu isolieren drohte.

Das hatte wesentlich mit dem Pietismus Franckes zu tun, einer Frömmigkeitsbewegung, die sich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts vor allem im Luthertum Geltung verschaffte – der wichtigste Vertreter war Philipp Jacob Spener (1635–1705), Franckes Lehrer – und die eine besondere Auffassung des „Priestertums aller Gläubigen“ vertrat, die zur Bildung von „Konventikeln“, intimen Zusammenschlüssen der wirklich „Erweckten“, führte, die das Mißtrauen der Kirchenführung erregen mußten.

Obwohl die Pietisten alles taten, um dem Vorwurf der Sektenbildung zu begegnen, blieb unverkennbar, daß ihre Absonderung, vor allem aber ihre Kritik der lutherischen Orthodoxie als äußerliche Glaubensübung, schwer vereinbar waren mit den Bedürfnissen einer Ordnung, die sich in Ermangelung von Alternativen dazu entschlossen hatte, Rückhalt beim Staat zu suchen. Die weltliche Obrigkeit teilte im allgemeinen die Skepsis der kirchlichen gegenüber dem Pietismus, der oft zu schwärmerischen und etwas weichlichen Ausdrucksformen neigte, die der Welt des Absolutismus fremd sein mußten.

Insofern kann es nicht überraschen, daß der preußische „Soldatenkönig“ einen Mann wie Francke anfangs mit großen Vorbehalten sah. Obwohl der lange vor der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms auf eine Lebensleistung verweisen konnte, die für sich sprach. Am 22. März 1663 in einer Familie des gehobenen Bürgertums geboren, wuchs Francke in behüteten Verhältnissen auf, bezog nach der Schulzeit in Gotha 1679 die Universitäten Erfurt, dann Kiel und schließlich Leipzig und Wittenberg, um Theologie zu studieren. 1685 erlangte er den Grad eines Magisters, habilitierte sich in Leipzig und begann seine Tätigkeit als Prediger.

Allerdings geriet Francke kurz darauf in eine schwere Glaubenskrise, in der er den Wahrheitsanspruch des Christentums radikal bezweifelte, was auch deutlich macht, daß er alle „geistigen Züge des modernen Menschen“ (Martin Schmidt) an sich trug. Er selbst hat von einem „Bußkampf“ gesprochen, auf den „Bekehrung“ und neue Gewißheit folgten. Bekehrung ist in diesem Zusammenhang ein irritierender Begriff, denn Francke war selbstverständlich als Kind getauft und konfirmiert, und wer wollte im Fall eines künftigen Geistlichen annehmen, daß er noch der Bekehrung bedurfte.

Allerdings gehörte es zu den Kernvorstellungen des Pietismus, daß jeder Namenschrist erst durch ein persönliches Erlebnis tief erschüttert werden mußte, um zur Umkehr zu kommen und wahren Glauben – Pietismus wird abgeleitet vom lateinischen pietas im Sinne von Glauben – an Christus zu finden. Die „Bekehrung“ Franckes und die Begegnung mit Spener hatten jedenfalls zur Folge, daß ein Freundeskreis Franckes zum Ausgangspunkt einer neuen Erweckungsbewegung wurde, die auch Teile der Leipziger Stadtbevölkerung erfaßte und dazu führte, daß die Kirchenleitung seine Ausweisung verlangte und erreichte.

Dasselbe wiederholte sich, als Francke nach Erfurt ging, und selbst seine Berufung 1697 als Professor für Orientalische Sprachen in Halle führte nicht zu einer dauerhaften Beruhigung der Lage. Bis 1715 mußte er sich mit einer Pfarrstelle im Vorort Glaucha zufriedengeben, erst spät übernahm er das Predigeramt an der St. Ulrichs-Kirche in der Stadt. Ohne Zweifel war Francke eine ebenso gewinnende wie polarisierende Persönlichkeit.

Als Hauptcharakterzug erscheint aber seine rastlose Tätigkeit. Die begründete er mit seiner theologischen Kernvorstellung, daß in der Gegenwart Gottesbeweise vor allem in Gestalt praktischer Taten des Christen zum Ausdruck kämen, und jenes große Werk, das bis heute mit seinem Namen verbunden ist, die Halleschen oder eben Franckeschen Stiftungen, wollte er genau so verstanden wissen. Bereits 1695 hatte Francke in Glaucha eine Armenschule gegründet, drei Jahre später wurde die Errichtung eines Waisenhauses begonnen, das man zwei Jahre später nach Halle verlegte. Bis zu seinem Tod am 8. Juni 1727 ordnete und überwachte Francke dessen Ausbau zu einer „Schulstadt“ mit Lehr- und Wohnhäusern, Werkstätten und Gärten, in der bis zu 2.500 Menschen lebten. Unter den Schülern gehörte nur ein Teil zu den Waisen im Wortsinn, denn der gute Ruf der Erziehung in Halle verbreitete sich rasch und führte nicht nur dazu, daß Francke erhebliche Summen als Spenden und staatliche Privilegien erhielt, sondern auch viele wohlhabende Bürger und Adlige ihre Kinder – Jungen wie Mädchen – zu ihm schickten.

Auffallend an seinem pädagogischen Konzept war dessen „realistischer“ Zug, der nicht nur in der Organisation des Unterrichtsstoffs (Konzentration auf Schreiben, Lesen, Neue Sprachen, Mathematik, Naturwissenschaften) zum Ausdruck kam, sondern auch in der Einrichtung von Manufakturen, die neben der praktischen Lehre die finanzielle Basis der Anstalten sicherten, und der Angliederung des „Seminarium praeceptorum“, das als erste Einrichtung zur geordneten Lehrerausbildung in Deutschland betrachtet werden kann. Der Vorbildcharakter Halles führte nicht nur dazu, daß seit 1720 jeder preußische Theologiestudent zwei Jahre an der dortigen Hochschule zu studieren hatte, die Impulse, die von Halle ausgingen, regten auch die Entwicklung des preußischen Schulsystems im 18. Jahrhundert an, das zum Modell für ganz Deutschland wurde.

Wie man an Franckes Leben und Lehre erkennt, ist die Vorstellung von Pietismus als Weltflucht falsch. Eher zielte er auf „Generalreformation“ ab, die ihren Ausgangspunkt bei der Erneuerung des Einzelnen nehmen und dann die Welt verändern sollte. Dem Zweck diente natürlich auch die Missionstätigkeit, die Francke organisierte und die in der massenhaften Verbreitung der Canstein-Bibel (so benannt nach Franckes Freund und Gönner Carl Hildebrand von Canstein) eine wichtige Stütze fand.

Die Erfolge dieses Programms waren unübersehbar und werden, soweit es um die karitativen Aspekte geht, heute auch weithin anerkannt. Allerdings neigen die aktuellen Würdigungen Franckes dazu, den Mann auf Mildtätigkeit und Nächstenliebe zu reduzieren und die für die Gegenwart anstößigen Aspekte seines Glaubens und seiner Erziehungslehre auszublenden, deren eigentliches Ziel das Brechen des „Eigenwillens“ der Zöglinge war, um sie zu Reue und Bekehrung zu führen und „neue Menschen“ aus ihnen zu machen.

Jedenfalls ging es dem Erzieher Francke nicht um ein Wachsen-Lassen, sondern darum, die Kinder zu formen und ihnen eine sehr klare Vorstellung davon einzugeben, was ihre Pflicht gegenüber Gott, dem König und den Mitmenschen sein würde. Darin liegt auch die Ursache jener sonst gar nicht verständlichen Konvergenz zwischen Pietismus und Preußentum, wie sie in der anfangs geschilderten Begegnung zwischen Friedrich Wilhelm I. und Francke zum Ausdruck kam. Denn die Verbindung von Glaubensernst und religiöser Duldsamkeit des Königs fand ihren Bezugspunkt in einer individuellen Gewißheit, die der Pietismus theologisch stützte, der seinerseits einen Begriff von Sittlichkeit zugrunde legte, der so streng war, daß er zur Basis der preußischen „Beamtenreligion“ (Carl Hinrichs) werden konnte.

Diese eigenartige Synthese fand ihren sinnfälligen Ausdruck in einem Relief, das Francke über dem Hauptgebäude der Stiftungen in Halle anbringen ließ und das zwei Adler unterhalb der Sonne zeigt, dazu den Satz aus Jesaja 40.31: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler“. Die Ähnlichkeit mit dem Emblem der preußischen Regimentsfahnen ist gewiß kein Zufall, auf denen ein Adler der Sonne entgegenstrebt, der er nicht weicht.

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