© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/13 / 22. März 2013

Vieles bleibt ausgeblendet
Zur „Stalingrad“-Ausstellung im Bundeswehrmuseum Dresden
Paul Leonhard

Wie bei Napoleon.“ Kopfschüttelnd steht der ältere Besucher vor einem hölzernen Heeresschlitten. Das Gerät mit der Typenbezeichnung „HS1“ ist eine deutsche Konstruktion, die vor siebzig Jahren im russischen Winter kläglich versagte. Die Truppen der 6. Armee mußten auf finnische und sowjetische Schlitten zurückgreifen. Derart kleine Details berühren die Besucher ebenso wie die zahlreichen Feldpostbiefe und -karten deutscher und sowjetischer Soldaten. Die derzeit im Erdgeschoß des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden zu sehende Sonderausstellung über die Schlacht um Stalingrad verfügt über zahlreiche solcher Details. In den Kämpfen eingesetzte Großtechnik – Panzer, Flugabwehrkanonen, Sonder-Kfz. – ist dagegen in einem Arsenal hinter dem Hauptgebäude zu besichtigen.

Die Ausstellung widmet sich der Schlacht um Stalingrad, dem Untergang der 6. Armee mit fast 200.000 Soldaten, die vielen Deutschen heute als Symbol für die Wende des Zweiten Weltkrieges gilt. Matthias Rogg, Direktor des Museums, ist da anderer Meinung: „Es war psychologisch die Wende, aber nicht strategisch.“ Jedenfalls dämmerte vielen Deutschen und noch mehr ihren Verbündeten zum Jahreswechsel 1942/43, daß am Ende des Kriegs nicht unbedingt ein deutscher Sieg stehen mußte.

Die Schlacht wird aus der Perspektive beider sich gegenüberstehender Seiten gezeigt. Außerdem schafft sie den Spagat, sowohl den Verlauf der Operationen und ihre Bedeutung zu zeigen, als auch individuelle Lebensläufe von Soldaten den Besuchern nahezubringen.

Die Chronologie beginnt mit der Schlacht um Charkow, bei der im Mai 1942 vier sowjetische Armeen eingekesselt und rund 240.000 Soldaten gefangengenommen wurden. Sie endet mit der politischen Bewertung der Ereignisse in der heutigen Zeit und der Vermarktung Stalingrads durch die Spielzeug- und Computerspielindustrie. Insgesamt stand ganz offensichtlich das Bemühen im Vordergrund, das schier unvorstellbare Leiden, Hungern, Kämpfen und Sterben im russischen Winter nacherlebbar zu machen, auch wenn der Ausstellungsraum angenehm temperiert ist. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.

Wer allerdings genau die den Exponaten beigefügten Texte studiert, bemerkt rasch, daß die Ausstellungsmacher bemüht waren, der Political Correctness zu entsprechen, indem immer wieder auf Kriegsverbrechen der 6. deutschen Armee hingewiesen wird. Als Beweis gelten Fotos von Erhängten, die bei einem deutschen Soldaten gefunden worden waren. Auch die These, daß man gefangene Sowjetsoldaten nach der Einkesselung einfach verhungern ließ, wird lediglich durch sowjetische Fotos untermauert. Dabei geht der Kriegsberichterstatter Heinz Schröter in seinem Buch „Stalingrad“ genau auf diese Episode ein. Er beschreibt, wie nachdrücklich die Lagerleitung immer wieder auf die hoffnungslose Situation der Kriegsgefangenen hinwies und letztlich erreichte, daß diese an sowjetische Einheiten übergeben wurden. Laut Schröter habe die Sowjetarmee nach dem Ende der Schlacht akribisch geprüft, ob die deutsche Lagerleitung Kriegsverbrechen begangen habe, was letztlich verneint wurde.

Schröters Buch ist in einer Vitrine zu sehen. Auch wird ein Schreiben gezeigt, in dem im Mai 1954 der Bundesminister für besondere Aufgaben, Franz Josef Strauß, Schröter für seine realistische Schilderung der Schlacht von Stalingrad dankt. Strauß war als Angehöriger der 22. Panzerdivision selbst an den Kämpfen beteiligt. Was stimmt, wer hat recht? Dem interessierten Publikum werden diese Fragen nicht beantwortet, es muß zu Hause selbst recherchieren.

Der Besucher kann sich damit begnügen, bei seinem Rundgang die rund 600 Exponate, von denen 40 Prozent aus russischen Museen stammen, zu betrachten. Er kann aber auch tiefer in die Geschichte eindringen, an Computerbildschirmen verfolgen, wie der Schlachtverlauf war, welche Pläne Stalins zur Einkesselung der Heeresgruppe Kaukasus der Widerstand der Stalingrad-Armee verhinderte.

Über die Situation der Soldaten der Achsenmächte – neben deutschen waren rumänische, ungarische, italienische, slowakische und kroatische Soldaten eingekesselt – erzählen fast unscheinbare Alltagsgegenstände. Diese werden ergänzt durch Stücke sowjetischer Soldaten und Zivilisten. Da Stalin die Evakuierung der Zivilbevölkerung viel zu lange untersagt hatte, mußten Zehntausende das Leid der Schlacht ertragen. Und nicht nur die deutsche Armeeführung, auch die sowjetische (was die Ausstellung verschweigt) nahm auf Zivilisten keine Rücksicht.

Die Gerätschaften des Tötens wurden sorgsam den jeweiligen Nationen zugeordnet. Das deutsche MG 34 auf Lafette tritt noch einmal gegen das russische Maxim an. Das wassergekühlte Maschinengewehr der ungarischen Armee, das maximal 200 Schuß in der Minute verschoß, wird mit dem MG 42 verglichen, das es auf 1.200 bis 1.500 Schuß brachte. Als ob das eine Rolle spielt, wenn die Schützen kaum noch über Munition verfügen oder die Flammenwerferpanzer über kein Öl.

Waffen des Häuserkampfes wie Stiel- und Eierhandgranaten, gestreckte und geballte Ladungen, Flammenwerfer, Karabiner 98k mit Zielfernrohr, MPi 40, Feldspaten, aber auch sowjetische Brustpanzer sind zu sehen. Die erbeuteten 120-Millimeter-Granatwerfer imponierten der Wehrmacht so, daß sie die Waffe kopierte. Auch erbeutete 120-Millimeter-Haubitzen wurden in das Waffenarsenal aufgenommen und in Deutschland Hunderttausende Granaten dafür gefertigt. Dazu kommen Uniformteile, Fotoalben, Anhänger und Amulette, eiserne Schuhbeschläge, ein rumänischer Essensbehälter, eine handgetriebene Sirene.

Eine Vitrine ist der Luftwaffe gewidmet, die beim Versuch, den Kessel zu versorgen, enorme Verluste vor allem an Transportmaschinen hinnehmen mußte, aber 25.000 Soldaten ausfliegen konnte. Lediglich zwei Tonnen Traglast vermochte eine Ju 52 zu transportieren, also maximal elf bis zwölf 200-Liter-Fässer mit Treibstoff. Neben der Vitrine stehen ein Rollreifenfaß sowie eine „Versorgungsbombe“. Warum in der Vitrine neben einem Generalsmantel des Kommandeurs der Luftflotte 4, Generalfeldmarschall Wolfram von Richthofen, auch Kleidungsstücke einer sowjetischen Fliegerin ausgestellt sind und ihre 17 Luftsiege gefeiert werden, erschließt sich dem Betrachter nicht. Ebensowenig, warum zwar ein Hohelied auf den Widerstand des italienischen Alpini-Armeekorps gesungen wird, aber nirgendwo eines auf deutsche Einheiten.

Eine Büste von Generaloberst Hermann Hoth erinnert an den Entsatzangriff der 4. Panzerarmee, die sich bis auf 48 Kilometer an den Kessel herankämpfen konnte, ein eingeflogenes künstliches Weihnachtsbäumchen an die Kriegsweihnacht 1942, ein Benzinkanister der SS an den Plan Hitlers, mit seinen Elitedivisionen „Das Reich“, „Leibstandarte“ und „Totenkopf“ die 6. Armee freizukämpfen. Allerdings traf der Großverband erst im Februar 1943 an der Ostfront ein.

Die heutige Sicht der damaligen Verbündeten Deutschlands auf Stalingrad wird ausgeblendet. Man begnügt sich mit der Rezeptionsgeschichte in beiden deutschen Staaten. Ehemalige Stalingrad-Offiziere wie Wilhelm Adam oder Arno von Lenski, Kommandeur der 24. Panzerdivision, bauten in Mitteldeutschland erst die Kasernierte Volkspolizei und später die NVA auf, andere, wie Artur Weber, Oberst der 297. Infanteriedivision, traten nach ihrer Rückkehr aus Rußland der Bundeswehr bei. Die Uniform des späteren Generals ist samt entnazifizierten Wehrmachtsorden zu sehen.

Das beeindruckendste Ausstellungsstück ist die „Stalingradmadonna“, eine Leihgabe aus der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. Der Arzt und Pfarrer Kurt Reuber (1906–1944) zeichnete sie Weihnachten 1942 mit Kohle auf die Rückseite einer russischen Landkarte. Lange galt diese aus der „Festung Stalingrad“ ausgeflogene Zeichnung als Sinnbild für den Opfergang der 6. Armee, heute symbolisiere sie die internationale Versöhnungsarbeit, heißt es im Ausstellungstext.

Die Ausstellung ist bis zum 30. April im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden, Olbrichtplatz 2, täglich außer mittwochs von 10 bis 18 Uhr, Mo. bis 21 Uhr, zu sehen. Telefon: 03 51 / 8 23 28 03

Der Ausstellungskatalog (Sandstein Verlag) kostet broschiert im Museum 25 Euro.

www.mhmbw.de

Foto: „Madonna von Stalingrad“, Zeichnung von Kurt Reuber, Dezember 1942: Sinnbild für den Opfergang

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