© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/13 / 22. März 2013

CD: B. Britten
Epik vor Dramatik
Jens Knorr

Wir schreiben das Jahr 509 vor Christus. Rom ist zur Hure, die Römerinnen zu Huren der etruskischen Besatzer verkommen. Nur Lucretia, Ehefrau des römischen Generals Collatinus, hat sich als gattentreu erwiesen. Prinz Tarquinius, Sohn des etruskischen Tyrannen Tarquinius Superbus, erschleicht sich Gastrecht in ihrem Haus und vergewaltigt sie. Schuldlos schuldig geworden, ersticht sich Lucretia. Collatinus nutzt ihren Tod, um seine politische Botschaft an die Römer, der Chorus, ein Mann, eine Frau, um seine christliche Botschaft an das Publikum zu bringen.

Mit seiner Kammeroper „The Rape of Lucretia“ von 1947 – in alter deutscher Übersetzung zum „Raub“ verniedlicht – reagierte Benjamin Britten (1913–1976), nach dem Londoner Uraufführungserfolg des groß besetzten „Peter Grimes“, auf die prekäre Situation des nicht subventionierten englischen Theaters. Aus dem Ensemble der Uraufführung in John Christies privatem Theater in Glyndebourne ging die „English Opera Group“ hervor, die dann ab 1948 ihre feste Spielstätte in Aldeburgh fand. Hier verwirklichten Britten, sein Lebensgefährte, der Tenor Peter Pears, und Regisseur Eric Crozier ihre Idee eines Festivals klassischer Musik.

Die in diesem Jahr von Brittens hundertstem Geburtstag veröffentlichte Aufnahme der „Lucretia“ entstand bereits im vorvorigen. Sie ist ein Zusammenschnitt zweier konzertanter Aufführungen auf dem 64. Aldeburgh-Festival unter Leitung des schottischen Komponisten und Dirigenten Oliver Knussen. Ihm gelingt es, das Gewebe der männlich und weiblich konnotierten Motivik bis in alle Verästelungen hörbar zu machen und orchestrale Klangwirkungen herzustellen, wie sie mit dreizehn Instrumentalsolisten nur herzustellen sind. Vor allem jedoch erlegt Knussens musikalische Ausdeutung dem Hörer einen Blick auf das Geschehen auf, der nicht voyeuristisch ist.

Diesem Anspruch hält das wenig homogene Solistenensemble nur bedingt stand. Peter Coleman-Wright und Angelika Kirchschlager haben in Tarquinius’ Arie und dem Duett mit Lucretia vor der Vergewaltigung eindrückliche Momente, wenn sie die Möglichkeit einer Begegnung zwischen Tarquinius und Lucretia aufklingen lassen, die nicht auf Gewalt beruhte, freilich unter anderen Verhältnissen.

Doch fällt die Lucretia der Kirchschlager hinter die leidvolle der Kathleen Ferrier (1946) und die in ihrer unantastbaren Würde geradezu klassizistische der Janet Baker (1970) weit zurück. Kirchschlagers Tonemission ist unausgeglichen, die Register nicht sauber verblendet, in der Tiefe verfällt sie auf unschöne, brustige Töne. Stimmliche Defizite sucht sie mit außerstimmlichen, naturalistischen Ausdrucksmitteln zu kompensieren. Die Interpretationsmacht verlagert sich auf den christlichen Kommentar, den das Geschehen nur mehr illustriert. Die Handelnden werden von den Kommentatoren, musikalisch intelligent agierend Ian Bostridge und Susan Gritton, in die Vorvergangenheit abgeschoben.

„Is this it all? It is all!“ In Aldeburgh war der Sieg der epischen über die dramatische Form und des Christenglaubens über den Römerglauben zuvörderst ein musikalischer.

Benjamin Britten: The Rape of Lucretia Virgin Classics, 2013

www.emiclassics.com  
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