© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

„Der Kelch des Giftes“
Durch einen Giftgasangriff auf Halabdscha mit etwa 15.000 Opfern schlug Saddam Hussein 1988 den kurdischen Aufstand nieder
Wolfgang Kaufmann

Zum Jahreswechsel 1987/88 hatte sich Saddam Husseins Feldzug gegen den Iran endgültig festgefressen und Kritiker spotteten offen über den „längsten Blitzkrieg aller Zeiten“. Zugleich attackierten die Freischärler der Demokratischen Partei Kurdistans und der Patriotischen Union Kurdistans unter Masud Barzani und Dschalal Talabani im Verein mit regulären iranischen Truppen den Norden des Irak. Dies stellte insofern eine ernste Gefahr für Bagdad dar, als damit die Möglichkeit bestand, daß die Ölfelder von Kirkuk und die Pipeline in Richtung Türkei in die Hände des Feindes fallen. Zudem gefährdete das Ganze auch die geplante große irakische Gegenoffensive am Schatt-el-Arab, welche die momentan günstige Situation nutzen sollte, die durch die rapide sinkende Kampfmoral der Iraner infolge der sieben gescheiterten „Kerbala-Offensiven“ entstanden war.

Vor diesem Hintergrund entschloß sich Saddam Hussein, auf eine Taktik aus dem Jahre 1983 zurückzugreifen: Damals war der Vormarsch der Iraner im Rawandus-Tal nördlich von Kirkuk sowie bei Pendschwin durch den massiven Einsatz von Senfgas gestoppt worden. Allerdings sollten diesmal gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden. Mittlerweile war nämlich auch die Anfal-Operation gegen die irakischen Kurden angelaufen, welche großangelegte Deportationen sowie den Massenmord an der mißliebigen Volksgruppe beinhaltete.

Deshalb bot die Besetzung der Grenzstadt Halabdscha durch kurdische Rebellen, die von iranischen Einheiten gedeckt wurden, die Gelegenheit zu einem Gegenangriff und gleichzeitigem Exempel. Immerhin galt gerade Halabdscha als Hochburg des kurdischen Widerstandes – hier hatten schon im Mai 1987 große Anti-Saddam-Demonstrationen stattgefunden.

Einen Tag nach dem Verlust der Stadt mit 70.000 Einwohnern warfen 15 bis 20 irakische Mirage- und Mig-Jets Senfgas-, Sarin- und Tabun-Bomben auf Halabdscha. Die Angriffe, die am 16. März 1988 um 11 Uhr mittags begannen und bis zum Folgetag anhielten, trafen vor allem Frauen, Kinder und Greise, denn die kurdischen Kämpfer verfügten ebenso wie die iranischen Soldaten über entsprechende Schutzausrüstungen. Seriöse Schätzungen gehen von etwa 5.000 sofort Getöteten aus, dazu kommen bis zu 10.000 Menschen, die an den Spätfolgen der Giftgasattacke verstarben beziehungsweise schwerste Nerven-, Haut- und Lungenschäden davontrugen.

Und Saddam Husseins brutales Kalkül ging auf: Die Kampfmoral der Kurden, welche sich auf die Seite des Iran geschlagen hatten, war gebrochen, denn das Mullah-Regime zeigte sich völlig außerstande, die kurdischen Zivilisten vor derlei Strafaktionen zu schützen. Das wiederum erlaubte eine Konzentration der irakischen Streitkräfte am Südabschnitt der Front und eine erfolgreiche Offensive zwischen April und Juni 1988 im Raum Al-Fao, Schelemtscheh und Madschnun, in deren Verlauf der Iran 2.400 Quadratkilometer Terrain verlor. Aufgrund dessen sah sich Ayatollah Khomeini im Mai 1988 gezwungen, den Oberbefehl über die iranische Armee niederzulegen und einen Monat später zudem auch noch den „Kelch des Giftes“ der Waffenruhe zu leeren.

Angesichts des Dominoeffektes, den der Giftgasangriff auf Halabdscha ausgelöst hatte, ist es mehr als unwahrscheinlich, daß ein Teil der Kampfstoffe gar nicht durch die irakischen Bomben verbreitet wurde, wie Gerüchte besagen: angeblich sollte ein ebenfalls zum Einsatz gekommenes Gemisch auf Zyanidbasis aus dem Iran stammen. Doch abgesehen davon, daß eine explizite Khomeini-Fatwa gegen den Gebrauch von Giftgas existierte, ist ein Nutzen für die Mullahs nicht erkennbar. Deshalb gehen die toten Zivilisten von Halabdscha ausschließlich auf das Konto von Nichtiranern.

Der erste in der Reihe wäre der holländische Unternehmer Frans van Anraat. Der lieferte dem Regime in Bagdad Tausende Tonnen Chemikalien für die Herstellung der Kampfstoffe, darunter Thiodiglykol, welches das Vorstufenprodukt von Senfgas ist. Dafür wurde er im Mai 2007 vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen zu 17 Jahren Haft verurteilt. Und auf irakischer Seite erhielten unter anderem der ehemalige Verteidigungsminister Saddams sowie der Chef des militärischen Nachrichtendienstes langjährige Haftstrafen. Dagegen ging die Angelegenheit für Ali-Hasan al-Madschid, den Hauptverantwortlichen für die Anfal-Operation und damit auch Halabdscha, fataler aus: „Chemie-Ali“ wurde insgesamt viermal zum Tode verurteilt und starb am 25. Januar 2010 am selben Galgen wie Saddam Hussein.

Foto: US-Soldat patrouilliert auf einem Friedhof mit den Giftgasopfern, Halabdscha 2005: Brutales Kalkül

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen