© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

Die Motoren der Umkehr
Das Wendejahr 1813 wäre ohne die preußischen Reformen in Verwaltung, Militär, Bildungswesen, aber auch als geistige Wegbereiter der nationalen Wiedergeburt nicht denkbar gewesen
Klaus Hornung

Nach der schweren Niederlage der preußischen Armee bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 und nach dem Frieden von Tilsit (Juni 1807), der Preußens Gebietsumfang nahezu halbierte, fanden in der preußischen Staatsbürokratie und im Offizierkorps Kräfte zusammen, die sich darüber im klaren waren, daß der Staat Friedrichs des Großen nur eine Zukunft hatte, wenn er sich durch eine tiefgreifende Reform erneuern konnte, Reformen nicht nur des Militärs, sondern auch des Staates und der Gesellschaft insgesamt. Nur sie würden die Aussicht bieten, daß Preußen sich früher oder später von der Fremdherrschaft befreien konnte.

Gerhard von Scharnhorst (1755–1813), der die zentrale Gestalt der preußischen Militärreform werden sollte, hatte schon 1794 als hannoveranischer Artilleriekapitän den Gegner, die französischen Revolutionstruppen, in den Niederlanden kennengelernt. In seiner Schrift „Über das Glück der Franzosen in den Revolutionskriegen“ (1797) hatte der junge Offizier die eigentlichen, die politisch-gesellschaftlichen Ursachen ihrer Siege klar erkannt. Sie waren „tief mit den inneren Verhältnissen verwebt“. Während in den Koalitionstruppen der Feudaladel und die Neigung zu „Luxus und lockerem Lebenswandel“ herrschten, waren die Revolutionstruppen von einem „Geist der Aufopferung, des Enthusiasmus und der Nationalehre“ erfüllt, den Scharnhorst als Vorbild für die notwendige Reform erkannte. Die Söldnerarmeen des Spätabsolutismus mußten durch Armeen abgelöst werden, in denen die Bürger zu den „geborenen Verteidigern“ des Vaterlandes wurden. Dazu mußte ihnen überhaupt erst einmal ein Vaterland gegeben, mußte der Nation „Selbständigkeit eingeflößt“ werden, das Selbstbewußtein freier Bürger, damit sie den Wert der äußeren Unabhängigkeit und der Freiheit im Inneren erkennen konnten.

Scharnhorst trat 1801 in den Dienst Preußens und wurde sogleich zu einem Rufer und Praktiker der Reform. 1807 berief ihn der König zum Vorsitzenden der Militärischen Reorganisationskommission, bald darauf wurde er zum kommissarischen Kriegsminister ernannt. Nun konnte er Zug um Zug die Reformen beginnen: die Abschaffung des Adelsprivilegs für die Offiziersstellen, die wissenschaftliche Ausbildung der Offiziere und ihre Beförderung nach Leistung im Frieden und nach Tapferkeit im Krieg statt der spätabsolutistischen „Konnexionen“, die Abschaffung der Prügelstrafe und des „Gasselaufens“ in den alten Söldnerarmeen und die „Freiheit der Rücken“ im künftigen Volksheer, wie Neidhardt von Gneisenau (1760–1831), der andere Repräsentant der Militärreform, in einem aufsehenerregenden Zeitungsartikel (auch das ein Novum für Militärs) forderte.

Es folgte die Reorganisation der militärischen Führungsspitze im Kriegsministerium als Teil der verfassungsmäßigen Gesamtregierung in einer künftigen konstitutionellen Monarchie und die Einrichtung eines wissenschaftlich-strategisch ausgebildeten Generalstabs, der dann im Verlauf des 19. Jahrhunderts für viele Armeen der Welt zum Vorbild wurde. Die Reformen fanden ihren Abschluß in der neuen Wehrverfassung der allgemeinen Wehrpflicht, die als Gesetz 1814 durch den Kriegsminister Hermann von Boyen eingeführt wurde.

Die Militärreform war Teil einer umfassenden Reform von Staat und Gesellschaft, deren prägende Persönlichkeiten Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom Stein (1757–1831) und Freiherr Carl August von Hardenberg (1750–1822) wurden. In Steins kurzer Ministerzeit 1807/08, die durch die Achterklärung Napoleons abrupt abgebrochen wurde, wurden die wichtigsten Grundlagen einer Staats- und Verwaltungsreform geschaffen.

Das Oktober-Edikt von 1808 wurde zur „Fanfare der Reform“ mit seinem ersten Paragraphen „Ab Martini 1810 gibt es nur noch freie Leute“. Die Agrarreform stand schon deshalb am Beginn, weil sie die Mehrheit der Menschen betraf, die auf dem Lande wohnte. Für sie brachte sie die Befreiung von der bisherigen Gutsuntertänigkeit und Leibeigenschaft. Die Bauern mußten freilich das Land von den Besitzern kaufen, wobei ihnen der Staat mit Krediten half. Durch den Krieg waren die staatlichen Hilfsmittel knapp, so daß die Zahl besitzender freier Bauern nur langsam anstieg.

Das Edikt über die Gewerbefreiheit brachte das Ende der alten Zunftordnung und öffnete auch hier die Tür zu modernen Eigentumsverhältnissen auf der Grundlage der Geldwirtschaft und als Voraussetzung für die bald einsetzende industrielle Revolution. Als fortschrittlich konnte auch Steins drittes Reformunternehmen gelten, die Städteordnung von 1808, die den Zugriff des absolutistischen Obrigkeitsstaates durch die kommunale Selbstverwaltung ablöste mit den neuen Institutionen der Stadtverordnetenversammlungen und der städtischen Magistrate, deren demokratische Wahlen jedoch noch auf lange Zeit hinaus auf das Bürgertum von Bildung und Besitz beschränkt waren.

Stein ging es um die Wiedererweckung des vom Absolutismus verschütteten „Gemeingeistes“ und er betrachtete die Selbstverwaltung der Städte als Pflanzstätte der bürgerlichen Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten und erste Stufe zu einer Verfassung mit einem Repräsentativsystem im Gesamtstaat. Hardenberg, der 1810 preußischer Staatskanzler wurde, setzte den Reformkurs fort, 1811 mit dem Edikt zur Emanzipation der Juden und 1812 mit der Einberufung einer provisorischen Nationalversammlung, die sich gemeinsam mit der Regierung um die Regulierung der Staatsschulden und Staatskredite bemühen sollte. In ihr waren erstmals Adel, Bürger und freie Bauern vertreten nach dem französischen Vorbild von 1789.

Dann aber wurde Hardenberg durch Napoleon zum Bündnis mit Frankreich und zur Stellung eines preußischen Hilfskontingents beim Einmarsch der Grande Armée nach Rußland gezwungen. Mit deren Rückzug veränderte sich die strategische Lage in Europa. General David Ludwig von Yorck (1759–1830) ergriff mit der Konvention von Tauroggen (JF 52/12) mit den Russen am 30. Dezember 1812 den Mantel Gottes in der Geschichte und leitete den Befreiungskampf ein.

König Friedrich Wilhelm III. hatte 1807 der Reform die Aufgabe gestellt, der Staat müsse „durch geistige Kraft ersetzen, was er an physischer verloren hat“. Das galt insbesondere für die dringend notwendige Reform des Bildungswesens, der Schulen und Universitäten. Wilhelm von Humboldt (1767–1831) und seine Mitarbeiter Johann Wilhelm Süvern (1775–1829) und Georg Heinrich Nicolovius (1767–1839) ersetzten das kommunal und konfessionell zersplitterte und trotz erster Reformen der Aufklärung wenig fruchtbare Schulwesen des Ancien Régime durch ein neues staatliches Schulsystem mit seinen drei Stufen der Elementarschulen, der Gymnasien und der Universitäten.

Wie bescheiden der Beginn der Berliner Universität war, zeigen die Zahlen bei ihrer Gründung 1810: 250 Studenten, in der theologischen und in der juristischen Fakultät je drei Professoren, in der medizinischen sechs und in der zentralen philosophischen Fakultät, die auch die klassischen Sprachen und die Geschichte einschloß, zwölf. Die Universitäten sollten zu den Pflanzstätten der künftigen bürgerlichen Eliten werden. Humboldts Neuhumanismus gründete im klassischen griechischen Bildungsideal Goethes und Schillers und in einiger Distanz zur christlichen Tradition.

Die Gymnasien wurden zu so etwas wie den Tempeln des neuen Humanismus (Thomas Nipperdey), zu tragenden Säulen des neuen preußischen Schulstaates, in denen sich in eigentümlicher Weise individualistische und obrigkeitliche Züge mischten. Humboldts Universitäten wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts und noch weit bis in das 20. Jahrhundert hinein zu weltweiten Vorbildern, vor allem in der Philosophie und in der Geschichtswissenschaft, später dann auch bis hin zu den Naturwissenschaften und zur Medizin. Die Distanz des neuhumanistische Bildungsideals zur Welt der Arbeit und Wirtschaft wurde freilich zu seiner immer fühlbareren Achillesferse.

Der Erfolg der Reformen in Preußen ist nicht zu verstehen ohne ihre engen Beziehungen zur „Deutschen Bewegung“, der Weimarer Klassik und dann auch der deutschen Romantik in Literatur, Dichtung, Philosophie und Wissenschaften bis hin zur bildenden Kunst und Architektur und deren weltweiter Ausstrahlung. Als Schillers „Wallenstein“ und „Wilhelm Tell“ 1805 in Berlin aufgeführt wurden, fanden sie – in der spannungsgeladenen Zeit vor dem Zusammenstoß mit Napoleon – im Bürgertum und Offizierkorps begeisterte Aufnahme, vor allem Tells Appell.

„Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an, / Das halte fest mit deinem ganzen Herzen. / Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft“

Besonders die Reden des Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1769–1814) „an die deutsche Nation“, gehalten bald nach Napoleons Sieg und unmittelbar unter den Augen und Ohren der französischen Besatzungsmacht im Berliner Palais des Prinzen Heinrich, das dann 1810 zum Ort der Berliner Universität werden sollte, gehörten zu dieser Saat der Befreiung. Seine brennende Kritik an einem Zeitalter der „Selbstsucht“ der unteren Schichten und der „Zügellosigkeit“ der oberen und sein Aufruf zur „Erlösung vom Bann der Sinnlichkeit“ taten ihre Wirkung in einer Zeit, in der viele Menschen noch etwas wußten von der negativen Macht individueller Habgier und Sittenlosigkeit und der offensichtlichen Notwendigkeit ihrer Überwindung, wenn das Gemeinwesen gedeihen soll.

Heinrich von Kleist (1777–1811) steuerte mit seinen Dramen, besonders dem „Prinzen von Homburg“ und der „Hermannsschlacht“, aber auch als Publizist seinen Teil zum Aufbruch bei, über dessen Ausbleiben er sich 1811, ein Jahr zu früh, verzweifelt das Leben nahm. Hier erreichte der Franzosenhaß extreme Züge – „Schlagt sie tot, das Weltgericht fragt euch nach den Gründen nicht“ –, der durch die Härte der Fremdherrschaft und dann unter dem Eindruck von Napoleons Katastrophe in Rußland zunahm. Bei den Zeitgenossen war vor allem der große Publizist und Sänger der Befreiung, Ernst Moritz Arndt (1763–1860), populär, etwa durch sein Lied

„Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte, / drum gab er Säbel, Schwert und Spieß dem Mann in seine Rechte“

Hier entstand ein gesamtnationaler, „großdeutscher“ Ton, der dann die liberalnationale, schwarzrotgoldene Bewegung bis über die Jahrhundertmitte hinaus bestimmen sollte. Arndt, der soziale Aufsteiger aus der ländlichen Unterschicht, traf den Ton der „kleinen Leute“, die unter der Besatzungsherrschaft besonders litten. Auch für ihn wurde „Sittlichkeit“ zur zentralen Chiffre seiner Publizistik und Dichtung als Vorbereitung auf den Befreiungskampf. Seine Wirkung war um so größer, als er Berater und Begleiter Steins im russischen Exil war. Und es war der Ton Schillers, der dann auch in der Kriegsdichtung Theodor Körners (1791–1813) und Max von Schenkendorfs (1783–1817) wieder aufklang.

Als das Werk der Befreiung im wesentlichen geleistet war, brachte Neidhardt von Gneisenau, der im Sommer 1815 Napoleon bei Waterloo seine letzte entscheidende Niederlage zufügte, das Ergebnis der Reform und Befreiung in die Formel vom „dreifachen Primat der Waffen, der Konstitution und der Wissenschaften“. Die wiedergewonnene militärische Stärke hatte den Sieg ermöglicht. Aber das Ziel einer freiheitlichen Verfassung war noch nicht erreicht. Die restaurativen Mächte in Preußen, Deutschland und Europa wußten sich noch Jahrzehnte zu behaupten.

Die Elite der Reformer bestand nicht nur aus geborenen Preußen. Wohl aber wurde Preußen zum Magneten, der die besten und fortschrittlichsten Kräfte aus ganz Deutschland anzog: Der Freiherr vom Stein kam aus Nassau, Scharnhorst und Hardenberg kamen aus Hannover, der Franke Gneisenau war noch in Friedrichs ruhmreiche Armee eingetreten. Ernst Moritz Arndt stammte von der seit 1648 schwedisch beherrschten Insel Rügen, der Historiker Barthold Georg Niebuhr kam aus Schleswig-Holstein. Sie traten neben die Reformer aus Altpreußen wie Carl von Clausewitz (1780–1831), Herman von Boyen ( 1771–1848) oder Steins ersten Mitarbeiter Theodor von Schön (1773 –1856), der ein Ostpreuße war.

Und auch sozial war der Reformer- Kreis von sehr unterschiedlicher Herkunft. In ihn fanden sich nicht nur die Söhne des Adels wie Stein, Hardenberg, die Humboldts, Heinrich von Kleist, sondern auch homines novi, soziale Aufsteiger wie Scharnhorst, Arndt oder der Bandwirkersohn Johann Gottlieb Fichte aus dem Erzgebirge, die die Lasten der breiten Schichten unter der Besatzungsherrschaft besonders zu empfinden vermochten.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung lehrte Politikwissenschaften an der Universität Hohenheim. Er ist Autor des Buches „Scharnhorst. Soldat, Reformer, Staatsmann“ (Stuttgart 2001)

Foto: Heinrich Friedrich Karl vom Stein (links oben), Gerhard von Scharnhorst (rechts oben, Ernst Moritz Arndt (links unten) und Carl August von Hardenberg (rechts unten): Beste und fortschrittlichste Kräfte

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