© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

Wart’s nur ab, Henry Higgins
Das Phonetiklabor als gesellschaftlicher Experimentierraum: Eine englische Fallstudie am Beispiel von George Bernard Shaws „Pygmalion“
Heinz-Joachim Müllenbrock

Im Jahr 1913 erlebte im Wiener Burgtheater ein Stück seine Uraufführung, das den inzwischen 57jährigen George Bernard Shaw weltberühmt machen sollte: die Komödie „Pygmalion“. Was schon für das damalige Publikum ein köstlicher Theaterspaß gewesen sein muß, war von dem Verfasser als gesellschaftskritische Manifestation intendiert. Shaw, der große Verächter jeglicher L’art pour l’art-Auffassung, der sich damit brüstete, keine einzige Zeile für die Kunst zu schreiben, der sich als Dramatiker in Personalunion mit dem Soziologen sah, war dem zeitgenössischen Publikum bereits als respektloser Gesellschaftskritiker bestens bekannt.

Shaw kann am ehesten als unorthodoxer Sozialist bezeichnet werden. Er war schon 1884 in die Fabian Society eingetreten, eine Vereinigung bürgerlicher pragmatischer Sozialisten, die ihr Ziel, die Umgestaltung der englischen Gesellschaft, nicht durch Revolution, sondern durch die allmähliche Durchdringung (permeation lautete der von Sidney Webb geprägte Begriff) der Nation mit fabianischem Gedankengut erreichen wollte.

In dieser auf großangelegte Aufklärungsarbeit setzenden Gesellschaft, für die er 1889 die „Fabian Essays in Socialism“ herausgab, tat sich Shaw als glänzender Debattierer hervor und bildete als witziger Dialektiker Eigenschaften aus, die auch seine Dramen kennzeichnen. Seine entschiedene Ablehnung marxistischer Theorie verband der jeglicher Idealisierung des Proletariats abholde Shaw mit einer nüchternen, herablassend-verächtlichen Einschätzung der Arbeiterschaft, der er revolutionäres Klassenbewußtsein absprach.

In seinem Stück „Major Barbara“ (1905) weiß der auf Aufklärung durch Provokation setzende Shaw sogar für das kapitalistische System eine Lanze zu brechen. Da Armut nach Shaws eigener Aussage in der Vorrede das schlimmste Verbrechen ist, nötigt der Waffenfabrikant Andrew Undershaft, von dem selbst die Heilsarmee Geld annimmt, seine zunächst empörte Tochter Barbara zu dem bitteren Eingeständnis, daß es zwecklos ist, dem die Existenz der Arbeiter erträglich machenden Konzern ihres Vaters mit idealistischer Verachtung zu begegnen.

Statt der illusionären Klassenkampf-Maxime zu vertrauen, richtete Shaw seine weiterreichenden Zukunftshoffnungen auf die Natur, die ihrer Idee nach auf eine immer höhere Selbstorganisation des Lebens durch wachsendes Bewußtsein ziele. Gemäß Shaws metabiologischem Konzept der „Life Force“, in dem sich Schopenhauers Willensvorstellungen und Nietzsches Übermenschentum verbinden, läuft die Entwicklung auf die Schaffung eines geistig überlegenen Menschentypus hinaus, dessen Daseins-erfüllung darin besteht, der „Life Force“-Idee zu dienen. In „Man and Superman“ (1903), einer amüsanten Umdeutung des Don-Juan-Mythos, vollstreckt Ann Whitefield als Verkörperung Shawscher „Lebenskraft“ den Plan der Natur, einen „superman“ zu schaffen, indem sie John Tanner, den vor ihr flüchtenden modernen Don Juan, für Fortpflanzungszwecke einfängt.

Die Emanzipation des Menschen aus unzumutbaren gesellschaftlichen Beschränkungen ist Shaws Generalthema geblieben. Wie kommt das in einer so heiteren Komödie wie „Pygmalion“ zur Geltung? Die Antwort lautet: über die Aussprache. In Ovids „Metamorphosen“ ist Pygmalion ein Bildhauer, der sich in eine von ihm geschaffene Elfenbeinstatue verliebt; die Liebesgöttin hat ein Einsehen mit seiner Marotte und macht die Statue, die schöne Galatea, lebendig.

Shaws Pygmalion Professor Higgins, für den der Phonetiker Henry Sweet Pate gestanden hat und der hundert verschiedene Vokalnuancen unterscheiden kann, hat mit der Liebe nichts im Sinn. Statt dessen wird er von dem Ehrgeiz getrieben, aus dem rauhen und ungewaschenen Blumenmädchen Eliza Doolittle, von ihm taktlos als „zerzauster Gossenspatz“ bezeichnet, eine Herzogin zu formen, wie er seinem Freund, dem Obersten Pickering, in einer Wette vorschlägt. Damit will er seine Theorie beweisen, daß die gesellschaftliche Stellung eines Menschen das Resultat seiner Aussprache ist.

Das deutschsprachige Publikum dürfte Shaw aufgrund dieses Experiments in erster Linie als Entertainer geschätzt haben, denn in Deutschland haben Aussprache und Akzent nie eine vergleichbare Bedeutung besessen. Shaw aber schlägt mit dem Aussprachetraining als gesellschaftlicher Dressur ein ernsthaftes Thema an, stellt doch die jeweilige Aussprache in England ein entscheidendes Klassenmerkmal dar, das den beruflichen Aufstieg fördern oder vereiteln kann. Bereits im Vorwort heißt es pointiert, daß es für einen Engländer unmöglich sei, seinen Mund aufzutun, ohne daß ihn ein anderer Engländer verachte; auch heute noch gehen, um nur das elementarste Beispiel anzuführen, soziale Schranken nieder, wenn Angehörige der Unterschicht das „H“ im Anlaut verschlucken statt es, wie von Mittel- und Oberschicht praktiziert, zu artikulieren.

Seit Jahrhunderten ist die „richtige“ Aussprache in einschlägigen Institutionen wie Public Schools und Universitäten systematisch kultiviert worden, um den Oberklassenstatus zu markieren. Noch Margaret Thatcher, die Tochter eines Krämers, mußte sich einer gründlichen phonetischen Schulung unterziehen, bevor ihre Aussprache den Erwartungen der Konservativen Partei entsprach! Insofern ist der so künstlich anmutende Vorgang der Anleitung Elizas durch Higgins fest in der englischen Realität verankert.

Die phonetische Versuchsanstalt in Higgins’ Junggesellenhaushalt, wo es immer wieder zu köstlicher Situationskomik kommt (zum Beispiel als Eliza zu Tode erschrickt, weil sie das erste Bad ihres Lebens nehmen soll), dient noch in anderer Hinsicht als gesellschaftliches Laboratorium. Zwar dominiert zunächst gutartiger Humor, als Eliza, der ihr Lehrer den Akzent und die Manieren einer Dame andressiert hat, bei einem Empfang im Salon von Higgins’ Mutter vulgäre Redewendungen in bester Aussprache vorbringt, was die Anwesenden gleichermaßen schockiert und erheitert.

Doch Eliza, die den entscheidenden Test bei einem Botschaftsempfang glänzend besteht, erkennt, daß der rein professionell an ihr interessierte Higgins sie nur als Versuchskaninchen benutzt hat, ohne die menschlichen Konsequenzen zu bedenken. Sozial heimatlos und für ihren früheren Broterwerb untauglich geworden, überwindet sie ihre Verzweiflung erst mit Hilfe Pickerings, der sie wie ein Gentleman behandelt und ihr so zu der von Higgins verwehrten Selbstachtung verhilft – ein gesellschaftskritischer Wink Shaws gegenüber akademischer Eitelkeit und bloßem Bildungssnobismus.

Elizas Emanzipation zu einem innerlich freien Menschen läßt das bei Shaw in Nachfolge Ibsens häufiger anzutreffende Thema der new woman anklingen. Zu der unter antiviktorianischen Vorzeichen stehenden Emanzipation Elizas gehört, daß der romantische Konventionen bekämpfende Shaw dem von Zuschauern beziehungsweise Lesern mit assoziierten Aschenputtel-Motiv die Erfüllung versagt, indem seine Cinderella ihrem Prinzen schließlich den Schuh, der im Märchen Erkennungszeichen und Schlüssel zum Glück ist, empört an den Kopf wirft – symbolischer Akt für Elizas Befreiung.

Shaws Belehrungsdrang, um dessentwillen er seinen intellektuell geschärften Witz aufbietet, wird abgerundet in der gewissermaßen soziologischen Nachhilfeunterricht erteilenden Nebenhandlung. Wie Shaw in „John Bull’s Other Island“ (1904) dem englischen Publikum demonstrieren wollte, welch falsche Vorstellungen es von den Iren hat, so führt er in „Pygmalion“ die Fehleinschätzung der Mentalität der unteren Klassen durch die gehobenen Schichten vor Augen. In der Gestalt von Elizas Vater, dem Müllkutscher Alfred Doolittle, offenbart sich die robust-unsentimentale Einstellung des Sozialisten Shaw zur englischen Arbeiterklasse. Doolittle, der sich als einen „unwürdigen Armen“ bezeichnet, besteht in entwaffnender Offenheit auf seinem Anteil am Lebensgenuß. So hat er, der die Moral der Mittelklasse verachtet, keine Skrupel, seine Tochter für fünf Pfund in die Erziehungsobhut von Higgins zu geben. Auf diese Weise räumt Shaw mit jeglicher, reformerischen Absichten eher hinderlichen Gefühlsduselei gegenüber der Arbeiterklasse auf.

Allerdings findet das Leitthema der Emanzipation eine komische Umkehrung im Schicksal Doolittles, der nicht den Mut fürs Armenhaus aufbringt und deshalb das durch einen Scherz von Higgins zustande gekommene Legat eines reichen amerikanischen Philanthropen und Gründers von Sittlichkeitsvereinen annimmt, welches ihn schließlich doch noch in das Prokrustesbett bürgerlicher Achtbarkeit zwängt.

„Pygmalion“ zeigt Shaw auf voller Höhe seines gesellschaftlichen Engagements. Doch die Komik, die er nur als didaktisches Instrument benutzte, hat, zumindest in der internationalen Rezeption, das belehrende Element weitestgehend verdrängt. „Pygmalion“, schon auf der Bühne und im Film ein durchschlagender Erfolg, feierte ab 1956 in der operettenhaften Musical-Version „My Fair Lady“ noch größere Triumphe.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen.

Foto: George Bernard Shaw (1936): Sein Belehrungsdrang galt der Emanzipation des Menschen

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