© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

Nestors Eskapaden
Gesellschaftsbesichtigung im ethnischen Schmelztiegel Miami: Tom Wolfes Multikulti-Roman „Back to Blood“ ist schwer wie ein Ziegelstein und anstregend, lohnt aber die Lektüre
Ellen Kositza

Back to Blood: Der deutsche Verlag hat drauf verzichtet, den Titel von Tom Wolfes neuem Roman zu übersetzen. Mitnichten ist das programmatische „Zurück zum Blut“ ein falscher Wegweiser. Das kiloschwere Werk (768 Seiten) handelt weder von einem medizinischen Problemfall noch von Pferdezucht. Das „Blut“, das hier im Titel beschworen wird, entspricht durchaus einem, ja, völkischen Verständnis. „Back to Blood“ ist ein Multikulti-Krimi und eine Gesellschaftsbesichtigung unter ungewohnten Vorzeichen.

Ein klotziges Thema, ein klotziger Anlauf, zunächst zahlreiche Schwierigkeiten. Allenthalben begegnen dem Leser „Schnuckelhintern“, „pektorale Prachtstücke“, „Brüste, die danach lechzen“, aus irgendeinem Oberteil hervorzuschlupfen, daneben „Augäpfel, die in schmerzenden Migränekugeln schwimmen“, „Zentrale Nervensysteme“, „Kleinhirne“ oder gar die „Betzsche Riesenpyramide“, die als körperliche, neuronale Insignien in Vertretung der jeweiligen Person agieren. Ist das zynisch, weil es die Personen als Sexualobjekte oder willfährige Sklaven einer biochemischen Synapsenpolitik agieren läßt? Ist es gar albern? Es ist anstrengend, es ist kein vornehmer Stil.

Und dann dies: Auftretende Strümpfe sind nicht häßlich, sondern hääääs-lich, und wenn etwas heftig flattert, dann schreibt Wolfe, daß die Dinge FLATTERN FLATTERN FLATTERN. Szenen, die auf einem KLATSCH Patrouillenboot KLATSCH stattfinden, werden ebenfalls, gleichsam KLATSCH idiotensicher, lautmalerisch unterlegt; und eine einzige Lachsalve (AhhhhHHockHock usw.) wird zigfach über mehrere Zeilen ausgekostet.

Muß man da durch? Durch Slang, Anzüglichkeiten, Überspitzung, eine Form der sprachlichen Zugewandtheit, die den Leser in die Rasanz eines actionlastigen Drehbuchs hineinreißen will? Oh ja, man sollte sich darauf einlassen! Mag sein, daß einen dieser tumultuarische – und letztlich gekonnt durchkomponierte – Stil korrumpiert. Daß er zu fesseln vermag, trifft es besser. Bald klebt einem dieser bücherne Ziegelstein geradezu an den Händen. Man kommt nicht los.

Schauplatz der Handlung ist Miami. Die Stadt in Florida genießt einen speziellen Ruf: Drogen, Kriminalität, Multikultur. Der liebenswürdige junge Polizist Nestor Camacho lebt in Hialeah, einer von kubanischen Exilanten dominierten Stadt im Großraum Miamis. Eine Durchschnittsexistenz unter Zigtausenden: Nestor liebt eine bildhübsche Kubanerin, Magdalena, er stählt seine Muskelpakete im Fitneßstudio, er kennt die familiären Mythen (Bootsflucht aus Kuba) in- und auswendig und will eigentlich nur eins: Glücklich sein, ohne jemandem zu schaden. Ein Pfundskerl ohne weitergefaßte Ambitionen. Dann aber dies: Auf Patrouille wird er mit einem kubanischen Flüchtling konfrontiert, der sich in einer lebensgefährlichen Situation befindet. Ihn retten hieße, ihn dem Polizeigewahrsam zu überantworten. Das hieße: Back to Kuba. Ihn nicht retten hieße erstens Befehlsverweigerung, zweitens den wahrscheinlichen Tod des Flüchtlings. Nestor schultert seine dienstlich angeordnete Aufgabe, und zwar auf geradezu heldenhafte Weise. Die Geschichte ist sofort auf allen Kanälen. Für die kubanische Gemeinschaft, seine Familie inklusive, ist er hinfort der Klassen-, nein Rassenfeind, ein nichtswürdiger Überläufer.

Nicht genug, Magdalena Otero (der Nachname steht – portugiesisch – für „Gebärmutter“), frei von jeglicher Loyalität, gibt Nestor den Laufpaß. Sie ist eine Aufsteigerin, qua körperlicher Attribute. Magdalena verkehrt jetzt mit ihrem Chef, einem durch und durch angelsächsisch-weißen Fernsehprominenten, der Sexsüchtige behandelt und dabei selbst die Krankheit in sich trägt, für deren Heilung sein Name als Markenzeichen steht. Der Psychiater, dessen elaborierter Ausdrucksweise sie kaum mächtig ist, wird nicht die letzte Stufe ihrer sexuellen Karriere sein. Auf der neu eroberten gesellschaftlichen Ebene begegnet Magdalena der attraktive Sergej Koroljow (zufällig gleichen Namens wie der historische sowjetische Gegenspieler Wernher von Brauns), ein schwerreicher Kunstmäzen, ein sogenannter Oligarch, Barbar und Weltmann in einer Person. Koroljow hat Miami eine Kunstsammlung moderner Werke gestiftet – oder entstammen all jene bestaunten Kritzeleien nur dem Pinselstrich eines nichtsnutzigen russischen Fälschers?

Während Magdalena, hier noch Spielmädchen des Sexologen, die exaltierte Wunderwelt der Kunstmesse Miami Art Basel besucht und dort über die „Ent-fickt“ betitelte feministische „Performance“ einer Künstlerin namens Heidi Schlossel staunt, in deren Verlauf sich der Szenestar meterweise Würste aus dem Unterlieb zieht, schreibt Nestor unversehens wieder Schlagzeilen: Er hat, abermals mit Hilfe seiner enormen Muskelkraft, einen afroamerikanischen Crack-Händler dingfest gemacht. Leider wurde die heroische Tat per Handy gefilmt, leider hat Nestors Kollege im Eifer des Gefechts nicht mit rassistischen Schmähungen gespart. Leider wurde die äußerst bedrohliche Situation im Vorfeld auf Youtube rausgeschnitten, leider wird es wieder Nestor sein, der büßen muß.

Und kein Ende: Nebenbei tritt ein haitianischer Professor auf, der zwar Kreolisch lehrt, diese „75-IQ-Analphabeten-Sprache“ aber abgrundtief haßt und sich aufwendig eine französische Abkunft zurechtgebastelt hat. Sein Sohn, zerrissen zwischen den Ethnien und den entsprechenden Zuweisungen, ist dazu übergegangen, dem Habitus und Jargon der afroamerikanischen Subkultur nachzueifern. Das bringt wenigstens ein cooles Ansehen. Die kriminelle Nebenwirkung? Nestor, der unglückliche Held, wird sich kümmern …

Währenddessen hocken der kubanische Bürgermeister und der schwarze Polizeichef, beide unter Nestors gutherzigen Eskapaden leidend, beide durch Quoten auf ihre Jobs gehievt, zwischen allen Stühlen. Was zählt? Amt oder Herkunft? Herz, Seele, die Logik der Körper oder „die Stimme der Vernunft“? Jedenfalls: Ein Rassenschlamassel, und was für einer! Wer sich für Clint Eastwoods Kultfilm „Gran Torino“ (2008) begeisterte, wird „Back to Blood“ lieben.

Tom Wolfe, der gerade seinen 82. Geburtstag gefeiert hat und nicht nur als Schriftsteller (sein Debüt, „Fegefeuer der Eitelkeiten“, setzte 1987 einen Meilenstein), sondern auch als scharfzüngiger konservativer Kunst- und Architekturkritiker sowie als Schöpfer des New Journalism, eines Alltagsreportagestils, seine Meriten hat, ist ein so fulminanter wie grandioser Roman zu verdanken.

Tom Wolfe: Back to Blood. Roman. Karl Blessing Verlag, München 2013, gebunden, 768 Seiten, 24,99 Euro

Foto: Verbrechen in Miami: Die Polizei im US-Bundesstaat Florida (Miami-Dade Police) untersucht am 20. Februar 2013 einen Tatort am Meadow-See in West Kendall. Zwei Personen, die des illegalen Marihuana-Anbaus verdächtig sind, hatten die Beamten in eine Schießerei verwickelt. Dabei ging das Haus der Verdächtigen in Flammen auf. Die Polizei nahm einen 29jährigen in Gewahrsam, eine zweite Person wurde erhängt aufgefunden.

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