© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/13 / 15. März 2013

„Niemand weiß, daß du hier bist!“
Am 13. Dezember verschwand Billy Six. Als einziger deutscher Journalist erlebte er Assads Gefängnisse von innen. Nun ist er zurück. Er berichtet von Folter, aber auch von menschlichen Momenten.
Moritz Schwarz

Herr Six, zurück in Deutschland haben Sie am Flughafen den Boden geküßt.

Six: Davon habe ich im Gefängnis geträumt. Nach fast drei Monaten Isolationshaft zurück in die Heimat zu kommen: da habe ich gejubelt und am Flughafen vor Freude laut „Deutschland!“ gerufen.

Was bedeutet „Isolationshaft“ konkret?

Six: In Damaskus war ich 23 Stunden und fünfzig Minuten pro Tag allein in eine Einzelzelle gesperrt. Ein nackter, kahler Raum, ohne Einrichtung, ohne Fenster, ohne Tages- nur mit Neonlicht, ohne Bücher oder Schreibzeug, ohne äußere Eindrücke bis auf einige Geräusche, die manchmal durch die Wände drangen. Und im Verhör hieß es: „Niemand weiß, daß du hier bist.“

Haben Sie das geglaubt?

Six: Das in so einer Situation zu hören, ist wirklich sehr, sehr schlimm. Man ist völlig von diesen Leuten abhängig und ausgerechnet die sagen einem, es gebe keine Hoffnung! Für einige schreckliche Tage habe ich es geglaubt, und es hat mich in eine depressive Phase gestürzt. Erst langsam konnte ich mich fangen und mir selbst eine positive Sicht der Dinge verordnen.

Wie das?

Six: Erstaunlich: Man kann sein Unterbewußtsein manipulieren, kann sich belügen, wissen, daß man es tut, und es doch glauben. Ich sagte mir: „Was für ein Abenteuer! Wer erlebt schon so etwas? Ich habe Glück!“ Und ich beschloß, daß es, wie jedes gute Abenteuer, gut ausgehen würde.

Vor gut drei Monaten, am 13. Dezember 2012, verloren wir den Kontakt zu Ihnen.

Six: Am Morgen dieses Tages ahnte ich noch nicht, daß ich dabei war, einen großen Fehler zu machen. Syrische Freunde, ja selbst Rebellen hatten davor gewarnt, mit meinem Übersetzer alleine von Abu-redi – in der Provinz Hama im Nordwesten Syriens – nach Tremseh zu fahren.

Alles hatte allerdings damit begonnen, daß Sie im August die grüne Grenze von der Türkei nach Syrien überquerten.

Six: Die Anträge auf Journalisten-Visa wurden über Monate nicht bearbeitet, und mit meinem Touristen-Visum ließ man mich aus „Sicherheitsgründen“ nicht ins Land. Daher blieb mir nichts anderes als dieser illegale Schritt. Deshalb bin ich auch auf Rebellenseite ins Land gelangt.

Vier Monate lang haben Sie von dort für die JUNGE FREIHEIT berichtet.

Six: Natürlich muß man sich zunächst einer Seite anschließen, wenn man Zugang bekommen möchte. Allerdings habe ich dennoch so unabhängig berichtet, daß die syrische Staatssicherheit später nichts Verwertbares gegen mich in den Artikeln finden konnte. Im Gegenteil. Auch die Rebellen waren zunächst mißtrauisch, aber ich konnte sie davon überzeugen, daß ich wirklich Reporter und kein Spion war. Und wie das so ist, natürlich freundet man sich auch persönlich mit den Leuten an, mit denen man Tag und Nacht zusammen ist. Mit ihrer Hilfe kam ich vier Monate gut durchs Land, weil sie wissen, wohin man sich bewegen kann und wohin nicht.

Warum haben Sie diese Regel am 13. Dezember mißachtet?

Six: Weil Tremseh wegen eines Massakers mit „100 bis 220 Toten“ bekannt war, das in den deutschen Medien Assad zugeschrieben wurde. Nach den Informationen, die ich vor Ort gesammelt hatte, kamen mir an dieser Version allerdings Zweifel. Tremseh ist nur rund zehn Kilometer von Aburedi entfernt. Ich kalkulierte eine kurze Autofahrt, ein paar Stunden, um sich ein Bild zu machen, und am Abend wären wir wieder zurück. Doch dann kam alles anders.

Wir haben erst am 26. Dezember erfahren, daß Sie tatsächlich verschwunden sind. Wochenlang haben wir von Berlin aus versucht, Ihren Weg zu rekonstruieren. Zeitweilig schien es, Sie seien in den Händen marodierender Milizen. Was ist wirklich passiert?

Six: Es hätte uns stutzig machen müssen, als uns auf der Straße nach Tremseh Autos entgegenkamen, deren Insassen komische Handzeichen machten. Heute weiß ich, sie wollten uns warnen. Damals sagte ich nur: „Hassan, hier stimmt etwas nicht?“ Dann sahen wir einen verlassenen Lkw etwas abseits der Straße stehen, alle Türen sperrangelweit offen (...) spätestens da hätten wir umkehren sollen. So fuhren wir einer Gruppe Soldaten, die im Straßengraben lauerte, vor die Gewehrläufe. Einer sprang auf und stoppte uns mit vorgehaltener Waffe. Er holte uns aus dem Wagen und zwang uns zu sich in den Schlamm.

Hatten es die Soldaten auf Sie abgesehen?

Six: Nein, wir waren wohl in eine Sperre geraten, die nicht speziell uns galt. Als ein weiteres Fahrzeug auftauchte, aber nicht stoppte, sondern die Flucht ergriff, eröffneten die Soldaten das Feuer. Es wurde erwidert und Kugeln pfiffen über uns hinweg. Dann rückten zwei Panzer an, aber das Auto konnte entkommen. Mir wurde klar, daß wir nun ihre Kriegsbeute waren, die sie vorweisen wollten. Wir wurden gefesselt und ins Militärlager von Murharda gebracht. Der Schußwechsel wurde als Befreiungsversuch für einen „Top-Terroristen“, gemeint war ich, interpretiert.

Was bedeutet es, in die Hände der syrischen Armee zu fallen?

Six: Sicher war es besser, als an Milizen zu geraten. Zum Beispiel hatten sie uns immerhin ordentlich gefangengenommen und nicht erschossen. Im Grunde hängt es davon ab, wen Sie vor sich haben. So waren die beiden Soldaten, die mich nach Murharda brachten, zwei wirklich gruselige Typen. Sie schienen mir wie irre, machten Grimassen und lachten überdreht. Sie schossen willkürlich aus dem Auto, auch auf die Fahrzeuge vor ihnen, wenn diese nicht schnell genug auswichen. Ich war heilfroh über die Ankunft in Murharda. Hier gab es ein Glas Tee – Gott sei Dank, die Soldaten hier waren also keine Monster –, bevor es ins Militärgefängnis nach Hama-Stadt weiterging.

Wir vermuteten Sie tatsächlich in Hama.

Six: Da lagen Sie richtig – zumindest zwölf Tage lang. Leider war das Gefängnis dort ein dunkles, vermodertes Gemäuer, kalt und naß, Regen drang in die Zelle. Es gab dreimal Brot am Tag: Früh mit Oliven, am Nachmittag zerkochter Reis und nachts eine Pellkartoffel. Man wurde satt, aber im „Hotel Mama“ schmeckt es besser. Ich hatte den Eindruck, daß der lokale Geheimdienstchef, der sich von nun an um mich kümmerte, wußte, daß ich kein „Top- Terrorist“ bin. Aber er mußte diesem „Anfangsverdacht“ eben nachgehen. Das hat mich andererseits aber auch beruhigt.

Wieso das?

Six: Der Mann hielt sich an Vorschriften, mir schien das ein gutes Zeichen.

Sie wurden verhört?

Six: Siebenmal, auch das lief recht human ab. Sie wollten wirklich wissen, was ich zu sagen hatte. 2009 traf ich in Kenia einen Deutschen, der wegen illegaler Einreise verhaftet worden war. Er erzählte mir, er und andere Angeklagte seien einem Richter vorgeführt worden, der ihnen ohne Verhandlung auf den Kopf zusagte: „Du soviel Gefängnis! Du soviel! Du soviel!“ Daß ich also überhaupt befragt wurde, war ebenfalls ein gutes Zeichen. Ebenso, daß mein Übersetzer freigelassen wurde.

Dennoch, Sie haben auch anderes gesehen!

Six: Andere Gefangene steckten sie mit dem Gesäß voraus in Autoreifen und ließen sie so „gefesselt“ die ganze Nacht nackt draußen liegen. Es war kalt, ich schätze vier bis sechs Grad, und die Leute froren erbärmlich, aber wegen des Reifens konnten sie sich nicht bewegen, um sich zu erwärmen. Vor allem aber scheint die stundenlange Fixierung in einer gekrümmten Position furchtbare Schmerzen zu verursachen, denn es war ein gräßliches Schreien und Stöhnen über viele Stunden zu hören.

Also waren diese Soldaten doch Monster.

Six: Natürlich war das ganz schrecklich. Was ich meinte, ist, daß sie nicht willkürlich jeden so behandelten, der ihnen in die Fänge geriet, sondern nur, wenn sie ihn wirklich für schuldig hielten. Es gab einen Untergebenen, der mich auch gerne in einen solchen Reifen gesteckt hätte, aber der Offizier hat abgewunken. Denken Sie auch an meinen entlassenen Übersetzer, er war der „Helfer“ eines mutmaßlichen „Top-Terroristen“, sie hätten auch ganz anders mit ihm verfahren können.

Mitte Januar konnten wir Ihren Übersetzer in Syrien lokalisieren und Kontakt aufnehmen. Er sagte uns, Sie seien in Jordanien.

Six: Unsinn. Es scheint, er hat mich im Stich gelassen. Er versprach, im Falle einer Festnahme die deutsche Botschaft zu informieren. Das hat er nicht getan. Warum, weiß ich nicht. Wurde ihm gedroht? Jedenfalls wurde ich nach Damaskus gebracht.

Warum wurden Sie verlegt?

Six: Das wurde mir nicht gesagt.

Wohin wurden Sie gebracht?

Six: Auch das erzählten sie mir nicht. Nach meinen Beschreibungen sagen mir andere Journalisten heute, es könnte das Khatib-Gefängnis im Stadtzentrum gewesen sein. Jedenfalls wurde ich dort erstmal mit einer saftigen Willkommensohrfeige begrüßt. Dann ging es weiter unter Gebrüll im Laufschritt ins Gebäude. Dort schlug mir furchtbarer Gestank entgegen, denn es ging auf eine riesige Sammelzelle zu, in die sie viel zu viele Menschen gepfercht hatten. Es war kalt, und die Insassen hatten ihre Schuhe oben an die Gitter binden müssen. Ich dachte nur: „Lieber Gott, bitte, bitte nicht da hinein!“ Sie scheuchten mich den Gang neben diesem „Viehstall“ entlang – und dann ging es in den ersten Stock. Sie glauben ja nicht, wie froh ich war!

Damit begann Ihre Isolationshaft?

Six: Nein, die hatte schon in Hama begonnen, aber nachdem ich den „Viehstall“ gesehen hatte, war ich regelrecht froh, daß ich im ersten Stock in einen zu einer Einzelzelle umfunktionierten ehemaligen Verhörraum gesperrt wurde.

Woher wußten Sie, daß es ein Verhörraum war?

Six: Es gab eine kaputte Kamera und ein großes Fenster zum Nebenraum, durch das man die Verhöre beobachten konnte. Jedoch war das Fenster herausgenommen, so daß ich durch die leere Fensteröffnung in den Nachbarraum steigen konnte. Allerdings waren beide Räume winzig, jeweils etwa 3,40 Meter mal 2,80 Meter.

Kaum genug Platz, um im Kreis zu gehen.

Six: Ja, dafür waren die Räume zehn Meter hoch. Offenbar gab es einmal Zwischendecken, denn Neonlampen hingen an Querstreben in vier Metern Höhe, die Decken aber fehlten. Ich habe nie verstanden, warum die Räume in diesem Zustand waren, auch nicht, warum das Fenster fehlte. Aber ich habe so einiges nicht verstanden, so wurden die Schnürsenkel kassiert, damit ich damit „nichts anstellen“ könne. Im Nebenraum meiner Zelle aber fand ich eine Eisenstange, Glasröhren und Kabel.

Wieso denn das?

Six: Ich weiß es nicht, aber diese Kammer war voller Schutt, Bretter, Teile von Rohren, ein Stapel abmontierter Neonlampen, dazwischen Müll, außerdem ein Holztisch. Mein Raum dagegen war vollständig leer.

Kein Bett?

Six: Weder Stuhl, Tisch oder Bett, nichts.

Wo schliefen Sie?

Six: Auf dem Boden neben den Heizungsrohren, die in der Ecke von unten nach oben verliefen. Außerdem fand ich fünf Militärdecken vor, mußte also nicht frieren und hatte etwas zum Unterlegen.

Allerdings ...

Six: ... allerdings stellte sich heraus, daß meine Kleidung plötzlich von Flöhen befallen war. Zuerst dachte ich, es sind Ameisen, denn überall in dem Raum waren Ameisen, aber dann stellte ich fest, daß da Blut gesaugt wurde. Deshalb lief ich bevorzugt nackt in der Zelle herum, dann war es erträglicher. Auch das Schlafen.

Nackt? Gab das nicht sofort Ärger?

Six: Sie kümmerten sich nicht groß um mich. Es war ihnen egal, was ich trieb, solange ich keinen Ärger machte. Es störte auch nicht, als ich schließlich nachts die Lampen aus der Fassung drehte, um ruhen zu können. Ich war 23 Stunden und 50 Minuten am Tag wirklich vergessen.

Und die restlichen zehn Minuten?

Six: Zweimal am Tag war für je fünf Minuten Toilettengang, einmal morgens um drei, einmal gegen 16 Uhr. Dann hieß es schnell, schnell den Gang hinunter ins Bad, das zum Glück sauber war. Toilette und Händewaschen – wenn man länger als ein paar Minuten brauchte, stürzten sie herein, brüllten und verboten das Händewaschen. Mal ein bißchen länger auf der Toilette zu brauchen, das war nur drin, wenn der Wärter gute Laune hatte.

Schließlich bekamen Sie Durchfall.

Six: Zum Glück nur einen Tag, denn Ärzte gab es angeblich nicht. Dennoch wurde an der Toilettenregelung nichts geändert.

Und?

Six: Na ja, ich hatte keine Wahl und machte in der Zelle. Das gab natürlich ordentlich Wutausbrüche. Ich entschuldigte mich intensiv, nach einer Weile beruhigten sich die Aufseher und ich durfte es mit Wasser und Eimer aufwischen. Aber die nächsten Tage waren sie verstimmt.

Fünf Minuten für die Toilette? – Was war mit Waschen?

Six: Außer Händewaschen war alles andere verboten, inklusive Zähneputzen. Auch die Kleidung wurde nicht gewaschen.

Zweimal am Tag Toilette – reicht das?

Six: Zu Beginn machte ich den Fehler, daß ich vor drei einschlief. Dann weckten sie mich nicht, und die Drei-Uhr-Toilette fiel aus. Also legte ich mich künftig erst nach drei Schlafen und wachte bis 16 Uhr wieder auf. Natürlich mußte ich oft die Beine zusammenklemmen. Ging es nicht anders, pinkelte ich in meine Trinkflasche. Die schmuggelte ich dann ins Bad, spülte sie mit Kaltwasser und füllte Trinkwasser ein, denn sonst gab es in der Zelle kein Wasser. Einmal fand ich im Bad eine halbierte Plastikflasche. Ich schmuggelte sie in meine Zelle, das war dann notfalls mein Klopott.

Ihre Flasche diente Ihnen allerdings nicht nur als Urinal und Trinkgefäß.

Six: Nein, ich stellte mir vor, sie sei eine Person und taufte sie „Bob Bottle“, stellte sie mir gegenüber und sprach mit ihr. Ich hatte ja außer bei den Verhören keinerlei Möglichkeit, mit einem Menschen zu sprechen, zunächst hatte ich ja selbst auf dem Weg zum Bad zu schweigen. Lesen und Schreiben war verboten, ich hatte auch weder Bücher noch Papier. Die Zelle hatte auch keine Fenster, es gab keinen Hofgang, keinerlei Eindrücke von außen, außer wenn Geräusche durch die Mauern drangen. Es gab nur Neonlicht und Leere: Bob, ein paar Decken und ich in einem leeren Raum. 23 Stunden und 50 Minuten pro Tag, sieben Tage die Woche, vier Wochen im Monat und fast drei Monate insgesamt. Zwölf Wochen unendliche Leere, nur das Surren der Neonlampen, tagaus, tagein. Da ist es kein Wunder, daß man anfängt, mit „Bob Bottle“ zu sprechen.

Was diskutiert man mit seiner Wasserflasche?

Six: Zum Beispiel habe ich mir einmal einen ganzen Abend damit vertrieben, mit Bob zu erörtern, wer es besser hat, ich oder Tom Hanks in dem Film „Cast Away“, in dem er einen Überlebenden auf einer einsamen Insel spielt. Ich analysierte unser beider Situation und diskutierte jeden einzelnen Gesichtspunkt. Am Ende verlor Bob Bottle, denn ich kam zu dem Schluß, daß ich es besser hatte als Tom Hanks.

Warum?

Six: Er mußte handeln. Ich nur warten. Es mag armselig klingen, aber man tröstet sich auch damit, daß es andere gibt, denen es noch schlechter geht. Und davon gab es im Gefängnis viele.

Haben Sie einmal die Nerven verloren und glaubten, verrückt zu werden?

Six: Ganz so weit ging es nicht, doch war es mitunter schlimm. Es ist kaum vorstellbar, wie sehr der Mensch nach geistiger Beschäftigung lechzt, wenn man nichts mehr hat, womit man sich die Zeit vertreiben kann. Dann fand ich im Mülleimer des Bads zerknülltes Butterbrotpapier und leere Flaschen, sorgfältig löste ich die Etiketten. Und ich stellte fest, daß die Kontaktstifte der alten Neonröhren im Nebenraum auf Papier graue fahle Striche erzeugten. Jetzt hatte ich Schreibzeug, schrieb alles mögliche auf, was mir einfiel und las es mir selbst vor. Das war großartig!

Aber verboten.

Six: Natürlich, ich mußte alles vor ihnen verstecken. Unverdächtig war dagegen das Sportprogramm, das ich mir zusammengestellt hatte und daß ich viel betete.

Glauben Sie an Gott?

Six: Natürlich, schon seit ein paar Jahren. Das Beten hat viel geholfen. Dagegen habe ich versucht zu vermeiden, an meine Familie zu denken – das quält zu sehr. Es war wichtig, sich zu beschäftigen, wenn solche Gedanken kamen, um sich abzulenken. So begann ich, Exkursionen zu machen.

Exkursionen?

Six: Zum Beispiel kletterte ich die zehn Meter bis zur Decke an den Heizrohren hinauf. Außerdem gab es in etwa vier Metern Höhe eine breite Lüftungsleitung an der Wand, die durch einen Durchbruch, in den Nachbarraum auf der anderen Seite führte. Ich kletterte darauf und zwängte mich durch das Loch, was heikel war, weil da noch ein offenes Stromkabel durchlief.

Was war auf der anderen Seite?

Six: Leider wieder ein Verhörraum, nur daß hier die Fensterscheibe zum wiederum nächsten Raum noch eingesetzt war. Außerdem gab es einen großen Sessel, vor einem Schreibtisch mit einem – Rechner! Ein Rechner! Mein Gott! Ganz klar, von hier aus konnte ich ins Weltnetz!

Wie bitte? Sie hatten Zugang zum Internet?

Six: Nein, natürlich nicht. Zu meiner unendlichen Enttäuschung war es nur ein Apparat zur Verarbeitung von Videoaufnahmen. Aber immerhin fand ich die englischsprachige Bedienungsanleitung des Geräts, die ich mitnahm. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie aufregend die Lektüre einer Bedienungsanleitung sein kann!

Was, wenn die Wärter während einer Ihrer Exkursionen in Ihre Zelle gekommen wären?

Six: Ich weiß es nicht, aber ich möchte mir das auch gar nicht ausmalen.

Was meinen Sie?

Six: Sagen wir so, sie wären, sehr, sehr böse geworden, wütender als beim Durchfall.

Bitte konkret?

Six: Ich weiß es nicht. Einmal jedenfalls hörte ich in eben jenem Raum mit dem Bildschirm Geräusche. Dann gingen die Leute dort und machten das Licht aus. Neugierig stieg ich wieder auf die Lüftung, ich wollte wissen, was sie da gemacht hatten. Ich kroch durch den Durchbruch. Der Raum lag im Dunkeln, aber im nächsten Raum hinter der Fensterscheibe war Licht.

Was war zu sehen?

Six: Dort schlugen Aufseher einen Gefangen, den sie verhörten.

Bitte?

Six: Das gab es regelmäßig.

Inwiefern?

Six: Ich konnte regelmäßig hören, wie Gefangene geprügelt wurden.

Warum?

Six: Mein Eindruck war, je nach Schwere der vermuteten Schuld. Wer im Verdacht stand, auf der Seite des Feindes gekämpft zu haben, wurde deftig verprügelt. Wer vielleicht nur an einer Demonstration teilgenommen hatte, wurde etwas geschlagen und andere auch mal gar nicht.

Wie schwer wurde geprügelt?

Six: Bei manchen aufs schwerste. Sie kamen nachts. Ich konnte die Schläge, das Schreien und das Stöhnen hören, und anschließend war der Flur voller Blut.

Wurden Menschen totgeschlagen?

Six: Nein.

Woher wissen Sie das?

Six: Weil ich gehört habe, wie die Verhörenden nach den Schlägen immer weitergefragt haben und wie die Opfer weiter wimmerten und stöhnten, und schließlich abgeführt wurden.

Wurde gefoltert?

Six: Ich würde Prügel mit Knüppeln, Gürteln und Stühlen als Folter bezeichnen.

Elektroschocks, Bügeleisen, Zangen?

Six: Nein, das gab es, soweit ich es mitbekommen habe, nicht. Die Rebellen hatten mir zwar erbeutete Elektroschocker der Staatssicherheit gezeigt. Hier jedoch gab es immer nur Prügel. So wie an jenem Tag, als ich neugierig in den dunklen Raum kroch. Um dann dort zu meinem völligen Entsetzen festzustellen, daß nicht alle Personen den Raum verlassen hatten: Direkt unter mir stand der Sessel und darin sah ich in der Dunkelheit eine Glatze schimmern. Es gab nur einen Aufseher mit Glatze, und das war der größte, stärkste und gröbste von ihnen. Mir stockte wirklich der Atem, ich war wie eingefroren, während mir das Herz bis zum Halse schlug.

Er bemerkte Sie?

Six: Offenbar noch nicht, denn er starrte weiter durch das Fenster auf die Prügelorgie. Also versuchte ich mich aus meiner Starre zu lösen und schob mich ganz langsam, in Zeitlupe, zurück durch das Loch.

Hätten Sie nicht besser leise ausharren sollen?

Six: Er hätte nur einmal nach oben schauen müssen! Nein, ich schob mich zurück, vorbei am Stromkabel – und konnte nicht verhindern, daß Staub und Glasfasern herabrieselten. Direkt auf seine Glatze.

Und?

Six: Gott sei Dank, er bemerkte nichts! Als ich endlich zurück war, versteckte ich mich völlig verdreckt unter der Decke. Nicht auszudenken, hätte er mich entdeckt!

Was wäre passiert wenn?

Six: Ich weiß es nicht, aber ich hatte wirklich Angst, und zu Recht.

Wären Sie dann geprügelt worden?

Six: Ich weiß nicht. Aber mit der VIP-Unterbringung wäre wohl Schluß gewesen.

Sie haben die Opfer in Hama gesehen, die in Damaskus gehört. Sind Sie davon nicht traumatisiert?

Six: Nein. Ich stellte mir vor, es wäre alles nur ein Film. Es war schrecklich, aber man war einfach gottfroh, daß es einem nicht selbst passiert ist. Und ich war entschlossen, alles zu tun, um das zu verhindern.

Warum wurde zwar geschlagen, Sie aber nicht?

Six: Davor schützte mich mein deutscher Paß und der Umstand, daß sie rasch feststellten, daß ich kein „Top-Terrorist“ war.

Sie wurden in Damaskus weiter verhört?

Six: Erneut siebenmal, zwischen dem 27. Dezember und dem 20. Januar. Die Verhöre dauerten zwischen fünf Minuten und drei Stunden, meist etwa 45 Minuten. Zunächst war es sehr unangenehm: Handschellen, Augen verbunden, im Stehen aussagen. Die Fragen wechselten sich mit Vorwürfen und Drohungen ab, wurden mitunter irrational – vermutlich um mich zu verunsichern. Allerdings haben sie mich nicht angefaßt, und später wurde es lockerer. Ich durfte sitzen, die Hände waren frei, und es gab keine Augenbinde mehr, stattdessen bot man mir eine Zigarette an.

Warum entspannten sich Ihre Verhöre?

Six: Ich hatte mir überlegt, das Beste wäre, sie dadurch zu beeindrucken, daß ich nicht so war wie alle anderen. Ich müßte herausstechen, so daß sie mich als Individuum wahrnehmen. So reichte ich zum Beispiel, wenn möglich, jedem zur Begrüßung die Hand. Als sich mein verhörender Offizier mit all seinen Titeln und Vollmachten vorstellte, reagierte ich nicht eingeschüchtert, sondern sagte: „Nice to meet you!“, also „Schön, Sie kennenzulernen!“ Das gab gleich Lacher im Raum. Und als er ob meines langen „Salafisten“-Bartes, den ich damals noch trug, spottete, ich sei wohl eine Ziege, antwortete ich: „Määäh!“

Darauf regierte er nicht wütend?

Six: Einen Europäer hätte ich so gereizt; er hätte gefolgert, ich nehme ihn nicht ernst. In Syrien aber fand mein Gegenüber das amüsant. Als sie mir einmal wieder einen Schlagstock zeigten und mich drohend fragten, was das wohl sei, antwortete ich: „Santa Claus?“ also: „Der Weihnachtsmann?“ Auch das brachte mir Sympathien ein. Außerdem bedankte ich mich für alles, selbst dann, wenn ich angeschrieen wurde.

Wirkte das nicht unterwürfig?

Six: Das durfte es natürlich nicht. Nein, ich tat es fest und ernsthaft, so wie jemand, der nicht Bescheid weiß und dem man erklärt, was Sache ist: „Vielen Dank, daß Sie mir die Regeln der Arabischen Republik Syrien erklären!“ Dieser Ernst kam an.

Zum Beispiel?

Six: Etwa fanden sie auf meinem Rechner Fotos, auf denen ich im Kreis der Rebellen mit Waffen posiere. Ich erklärte ihnen, daß es nur Spaß war, aber daß ich einsehe, wie dumm es gewesen sei. Ich erklärte ihnen, daß es den Europäern zu gut geht, für sie ist Frieden und Wohlstand selbstverständlich. Deshalb nehmen sie nichts mehr ernst, haben keinen Respekt vor den Dingen, glauben mit allem ihren Spaß treiben zu können. Ich sehe ein, daß auch ich einer dieser verwöhnten Europäer war, daß ich jetzt aber erkenne, wie oberflächlich und respektlos das ist gegenüber jenen, die täglich ihr Leben an der Front riskieren. Das haben sie mir geglaubt – und es war, um ehrlich zu sein, auch ernst gemeint.

So konnten Sie die Verhöre für sich entscheiden?

Six: Das konnte ich, weil sie wirklich an Wahrheitsfindung interessiert waren. Ich war erstaunt, was sie alles über mich wußten. Sie hatten eine dicke Akte über mich, in der alles mögliche stand, auch was ich früher so gemacht hatte, auch viele völlig irrelevante Dinge. Sie hatten also keineswegs nur Belastendes gesammelt, sondern alles, was sie bekommen konnten, offenbar weil sie sich ein Bild machen wollten. Überlegen Sie mal, wie einfach es gewesen wäre, mich einfach nur fertigzumachen: Illegal im Land, unterwegs mit den Rebellen, Fotos mit Waffen in der Hand, abgebrochene Beziehungen zu Deutschland, Kriegsrecht. Sie hätten mir so leicht einen Strick drehen können. Sie haben nichts davon gegen mich verwendet. Sie haben sich hingesetzt und mühevoll alles auf meinem Rechner durchsucht und übersetzt, was darauf hindeuten könnte, daß ich ernstlich an Kampfhandlungen teilgenommen haben könnte. Und nachdem sie nichts gefunden hatten, kamen sie zu dem Schluß: Nur begrenzt schuldig.

Was, wenn sie etwas gefunden hätten?

Six: Dann säße ich jetzt nicht hier. Dann wäre ich auch geprügelt worden und im dunkelsten Loch verschwunden.

Allerdings erzählen Sie auch von einem Türken, der zu Unrecht festgehalten wird.

Six: Ja, weil sie die Türkei der aktiven Unterstützung ihrer Feinde verdächtigen. Der Seemann war nur fünfzig Meter vom Schiff zu einem Telefonladen gegangen, um sich eine SIM-Karte zu kaufen, da wurde er verhaftet: „Was, kein Paß?“ „Der ist bei der Hafenbehörde! Können wir dort nicht vorbeischauen?“ „Nein, mitkommen!“

Also hat Ihnen auch geholfen, daß die richtigen Leute nach Ihnen gefragt haben?

Six: Ganz sicher. Ich sage ja, außer meiner Unschuld in puncto „Terrorismus“ und „Spionage“ hat mich mein Paß gerettet, die Tatsache, daß der deutsche Staat nach mir gefragt hat. Und zu hören, daß so prominente Personen wie Peter Scholl-Latour, Susanne Koelbl oder Susanne Osthoff sich für mich eingesetzt haben, finde ich toll. Ein dickes Dankeschön an alle!

Im Januar gab es einen Gefangenenaustausch. Wir hofften, daß Sie dabei freikommen. Leider war das nicht der Fall. Aber wie wir heute wissen, war unter den Freigelassenen die Person, die den entscheidenden Hinweis gab!

Six: Ende Dezember wurde ich für eine Nacht in eine andere Zelle verlegt. Zuvor hatte ich meinen Namen hinter der Tür an die Wand geschrieben. Diese Person, die syrische Studentin Wala K., befand sich nun vorübergehend in meiner Zelle und gehörte dann zu den Entlassenen des Austauschs. So bekamen die deutschen Behörden Nachricht über mein Schicksal.

Offenbar hat das Auswärtige Amt dann Rußland um Vermittlung gebeten.

Six: Peter Scholl-Latour sagt, es wundere ihn nicht, daß die Russen mich freibekommen haben, „denn die Russen sind die letzten, auf die die Syrer sich verlassen können“. Jedenfalls hieß es am Dienstag, den 5. März plötzlich: Schnell ins Bad, Hände und Gesicht waschen. Mit heißem Wasser! Dann mußte ich vielleicht eine Stunde warten und wurde schließlich, ohne daß mir jemand etwas erklärte, in eine Pressekonferenz bugsiert, die vom syrischen Fernsehen übertragen wurde. Plötzlich stand ich zwischen dem syrischen Vize-Außenminister und dem russischen Botschafter vor rund 120 Journalisten mit Kameras und Mikrofonen. Bei den Russen gab es die erste Dusche in diesem Jahr und ein leckeres Mittagessen. Sie fuhren mit mir schwer bewaffnet an die Grenze zum Libanon, wo mich Angehörige der deutschen Botschaft in Beirut – in Damaskus haben wir ja keine mehr – empfingen. In der Botschaft gab es entspannte Gespräche und eine Untersuchung durch den Vertrauensarzt. Das Botschaftspersonal kümmerte sich rührend um mich und buchte mir einen Flug noch für die Nacht nach Hause, nach Berlin!

Würden Sie wieder nach Syrien gehen?

Six: Warum nicht? Mit Visum ja.

Wer wird den Krieg gewinnen?

Six: Vielleicht wird Assad eines Tages verschwinden, aber das wird den Krieg nicht beenden. Gut möglich, daß dann der Kampf als Bürgerkrieg zwischen den Volksgruppen weitergeht und wir am Ende, wie Scholl-Latour schätzt, nicht nur 60.000 Tote wie bis jetzt, sondern 200.000 Tote haben. Was die Sache anheizt, ist die dauernde äußere Einmischung. In Kafr Setah etwa, einer Kleinstadt der Hama-Provinz, hatten Armee und sunnitische Bevölkerung einen Kompromiß geschlossen: Beide Seiten ließen sich in Ruhe.

Ist Assad der Böse, sind die Rebellen die Guten, wie bei uns meist dargestellt?

Six: Ich habe Rebellen erlebt, die tagsüber jubelten, wie herrlich dieser Heilige Krieg sei, und die mir nachts berichteten, wie schrecklich die Situation für sie sei. Ich habe erlebt, wie die Staatssicherheit grausam Menschen verprügelte, aber auch gesehen, wie die gleichen Leute, die das mit Haß und Lust getan haben, deshalb später traurig wirkten und sich schlecht fühlten.

Was haben Sie persönlich gelernt?

Six: Ich habe gelernt, daß Assads Staat eine brutale Diktatur ist, aber keine Willkürherrschaft. Wenn es den Krieg nicht gäbe, dann könnte man mit Assad leben. Erst recht mit den angekündigten Reformen. In der Tradition seines Vaters versucht er, seine Feinde zu vernichten, aber Assad ist nicht Saddam Hussein, bei dem keiner sicher war, auch nicht der, der sich konform verhielt. Die Person Assad ist mir unbekannt, aber sein Regime hat immerhin garantiert, daß alle Volksgruppen friedlich nebeneinander leben konnten.

Und das ist mit den Rebellen nicht der Fall?

Six: Ich weiß nicht, aber in dem Moment, wo es keine Regierung mehr gibt, die den Islam unter Kontrolle hält, übernimmt dieser die führende Rolle und kommt zu seiner Ursprünglichkeit zurück.

Was bedeutet?

Six: Das Zusammenfallen von Religion und Politik. Die Muslime sind unglaublich freundliche Menschen, sie umarmen dich – einen Fremden –, laden dich ein in ihr Haus, wo du essen und schlafen kannst. Sie fahren dich herum und gehen sogar Risiken für dich ein, und sie lehnen jede Form der Entlohnung ab. Und dennoch, obwohl die Leute wirklich zum Knuddeln sind, weiß ich, daß wenn es politisch wird und um die Religion geht, diese Leute schlagartig nicht mehr nett sein werden, sondern dann gilt, was im Koran und der Sunna steht, und zwar unerbittlich! Denn der Islam ist nicht spirituell, sondern politisch, das heißt, er muß in dieser und nicht in der nächsten Welt umgesetzt werden. Deshalb ist auch nicht entscheidend, was du in deiner Verbindung zu Gott tust, sondern das, was du in deiner Verbindung zu anderen Menschen machst. Deshalb muß der Muslim einen anderen zwingen, so zu handeln, wie es die Gesetze der Scharia vorsehen, das ist die erste Tugend im Islam. So reizend die Muslime sind und so reich und beeindruckend ihre Kultur ist, am Ende ist es dieser Faktor, der den Islam ausmacht – und der diesen Krieg am Leben hält.

 

Billy Six, befand sich vom 13. Dezember 2012 bis 5. März 2013 in syrischer Haft. Das Bild links zeigt den 26jährigen gebürtigen Berliner und gelernten IHK-Finanzwirt 48 Stunden nach seiner Entlassung in der elterlichen Wohnung bei Berlin. In der Hand hält er ein Metallteil, das er in der Haft zur Kürzung der Fingernägel zweckentfremdete. Nachdem Six bereits im Februar 2011 für die JUNGE FREIHEIT vom Kairoer Tahrir-Platz und von März bis August 2011 aus Libyen berichtet hatte, führte er für diese Zeitung ab 17. August 2012 sein „Syrisches Kriegstagebuch“ mit exklusiven Berichten aus dem vor allem von Rebellen kontrollierten Nordwestsyrien. Bereits vor seiner Tätigkeit als Journalist hatte Six zahlreiche Reisen unternommen, etwa zu Fuß quer durch Afrika.

Fotos: Zerstörter Kampfpanzer der syrischen Armee an der Autobahn nach Aleppo (Foto von Billy Six aus dem August 2012):  „Der Schußwechsel wurde als Befreiungsversuch für einen  ‘Top-Terroristen‘ interpretiert – gemeint damit war ich.“; Gelöste Flaschenetiketten,  Butterbrotpapier, Bauteil einer Neonröhre: „Endlich hatte ich Schreibzeug!“

 

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