© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/13 / 08. März 2013

Der Flaneur
Ein Bier für den Sprößling
Frank Liebermann

Ich begebe mich in ein nahe gelegenes Berner Café, um mich meiner sonntäglichen Zeitungslektüre zu widmen. Es ist nur noch ein großer Tisch frei, an dem bereits ein Ehepaar mittleren Alters mit einem auf zehn Jahre geschätzten Jungen sitzt. Gerne darf ich mich dazusetzen.

Leider wird es mit dem Lesen nichts. Immer wieder zwingen mich die lautstarken Gespräche meiner Tischkollegen zum Zuhören. Mit dem Blick auf die ausgebreitete Zeitung gewandt, versuche ich mein Lauschen schamvoll zu verbergen. Die Erwachsenen sind offensichtlich Angehörige der weniger gebildeten und durstigen Stände, was sich nicht nur in der Kleidung widerspiegelt, sondern auch in Lautstärke und Wortwahl der Gespräche, die auch die Blicke der anderen Gäste auf sich ziehen.

Der Vater bestellt sich zügig, aber ohne Hast, ein Bier nach dem anderen. Der Junge nuckelt lustlos an seiner Cola, bis er auf die Idee kommt, daß er auch ein Bier haben möchte. Die Mutter verweigert dies, der Vater lacht. Er scheint fast schon ein wenig stolz wegen der Reife seines Sohnes zu sein. Mit dem abschlägigen Bescheid gibt sich der Junge aber nicht zufrieden. Konsequent quengelt er weiter. Wenn er schon kein eigenes Bier bekommt, möchte er wenigstens einen Schluck haben.

Fasziniert folge ich dem Schauspiel. Der Vater möchte den Jungen nippen lassen, die Mutter tobt und beschimpft den Mann als „Seckel“, was in der Schweiz durchaus eine gewisse Heftigkeit hat. Die Mutter bestellt für den Jungen einen Schokoladenkuchen, der Vater sich ein weiteres Bier. Für kurze Zeit läßt sich der Junge besänftigen, und das Gequengel nach Bier verstummt.

Später stößt eine ältere Dame zu unserem Tisch dazu. Die Großmutter des Jungen. Das Eintreffen befeuert die erlahmte Debatte. Erneut verlangt der Junge nach Bier, was von der inzwischen wütenden Mutter mit immer mehr Ärger verneint wird, während der erstummte Vater in sein Bier grinst. Doch dann findet die Oma einen Kompromiß. Sie bestellt dem Jungen ein alkoholfreies Bier. Der Sonntag scheint gerettet.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen