© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/13 / 08. März 2013

Die Opfer einer Deformation
Der Germanist Helmut Böttiger hat ein Porträt der wirkungsmächtigen „Gruppe 47“ vorgelegt
Thorsten Hinz

Die Gruppe 47 war eine Pflanzstätte bundesdeutscher Kultur und Geistigkeit, vergleichbar der Frankfurter Schule. Sie ist ein Mythos der alten Bundesrepublik – und ein Schatten, der bis heute schwer auf dem Land liegt. Noch immer überragen ihre hochbetagten Hinterbliebenen alle, die nach ihnen kamen, zumindest in der öffentlichen Resonanz: Ein Gedicht oder eine Autobiographie von Günter Grass, ein Roman oder eine Rede von Martin Walser, ein Essay von Hans Magnus Enzensberger reichen aus, um Feuilletonschreiber und Zentralräte kopfstehen zu lassen. Was war das Geheimnis, was die Essenz dieser lockeren Verbindung von Literaten?

Helmut Böttigers Buch trägt den Untertitel: „Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb“, was auf Sympathie und Nähe zum Gegenstand schließen läßt. Anschaulich, chronologisch, auf reicher Quellenbasis, mit sachkundigen Einschüben schildert er die Tagungen der Gruppe, zu denen ihr Präzeptor Hans Werner Richter zwischen 1947 und 1967 alljährlich einlud. Man las Texte vor, über die anschließend diskutiert wurde. Bis zum Schluß hielt Richter den Anspruch eines informellen Freundeskreises aufrecht, doch bald bekamen die Tagungen einen quasi-offiziellen Charakter, sie wurden zur Literaturbörse, auf der Journalisten, Kritiker, Verleger die Schriftsteller überwogen.

Faktisch wurden sie zu einer Schaltstelle des Kulturbetriebs – „Reichsschrifttumskammer“ nannte ein Bundesminister sie sogar. Das war giftige Polemik, aber Tatsache bleibt, daß im literarischen Leben niemand Fuß faßte, der von der Gruppe 47 nicht akzeptiert wurde. Das galt für Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Uwe Johnson usw. Eine seltene Ausnahme bildete Walter Kempowski, dessen Durchbruch allerdings erst später erfolgte.

Im Jahr 1966 wurde der 24jährige Peter Handke schlagartig bekannt, als er mit einer situativ unbegründeten, dafür gründlich vorbereiteten Verbalattacke auf die „Beschreibungsimpotenz“ der Literatur auftrat. Das Diskussions- war nun endgültig zum Marketingforum geworden, das Ende der Tagungsreihe lag in der Logik der Entwicklung. 1968 war zwar noch ein weiteres Treffen in Prag geplant, das aber wegen des sowjetischen Einmarsches in der Tschechoslowakei nicht mehr stattfand.

Böttiger hat Archive durchforstet, Presseberichte und die Forschungsliteratur gesichtet, Zeitzeugen befragt. Wo er sich auf das Literatur- und Milieustudium beschränkt, gelingt ihm eine lebendige Darstellung. Die Gründe für den Aufstieg der Gruppe erschließen sich daraus jedoch nicht. In ermüdenden Endlosschleifen wiederholt der Autor die Fama von den kritischen Intellektuellen, die gegen ein übermächtiges Establishment und den „Mief“ der Adenauer-Ära rebellierten. Kein einziges Mal wundert er sich über den Pluralismus dieser Ära, welcher den Siegeszug der Gruppe 47 ermöglichte. Der politisch-historische Sinngehalt der eigenen Recherchen bleibt ihm verschlossen.

Er setzt voraus, daß die literarischen und sonstigen Hervorbringungen der Gruppe 47 unwiderstehlich waren. Sicher gibt es bemerkenswerte Bücher von bleibender Bedeutung, aber es handelt sich um Ausnahmen. Die Romane Heinrich Bölls, der 1972 den Literaturnobelpreis bekam, sind nahe der Trivialitätsgrenze gebaut, und selbst Günter Grass hat nach der „Danziger Trilogie“, die er vor rund fünfzig Jahren abschloß, kaum mehr Anspruchsvolles veröffentlicht.

Die Gruppe 47 wurde frühzeitig im Rundfunk rezipiert, etliche ihrer Autoren fanden dort ein gutes Auskommen, Alfred Andersch und Martin Walser sogar eine Anstellung. Der Rundfunk war damals ein modernes Medium und verfügte über großen öffentlichen Einfluß. Er war nach 1945 von den Alliierten neu aufgebaut worden, in seiner Personal- und Programmpolitik spiegelten sich politische und gesellschaftliche Machtverhältnisse wider, die langfristig wichtiger waren als parlamentarische Mehrheiten. Im Buch „Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“ hat Clemens Albrecht nachgerechnet, daß Adornos und Horkheimers Medienpräsenz die von Gadamer, Heidegger, Jaspers oder Gehlen um ein Mehrfaches übertraf. Albrecht spricht von einer „Rundfunkhoheit“ der Frankfurter Schule.

Die Parallele zur Gruppe 47 liegt auf der Hand. Es wäre zu untersuchen, wie sich die „Rundfunk-“ zu einer allgemeinen „Medienhoheit“ ausweitete, gegen die auch angesehene Literaturkritiker wie Hans Egon Holthusen oder Friedrich Sieburg wenig ausrichten konnten. Beide hatten Karriere in der NS-Zeit gemacht, was zwecks Einschüchterung gegen sie vorgebracht werden konnte. Böttiger setzt diese Tradition fort, wenn er die vernichtenden Analysen, die Holthusen an der eindimensionalen Deutschland-Kritik im „Faustus“-Roman von Thomas Mann vorgenommen hat, mit dem Hinweis auf seine SS-Vergangenheit zu erledigen versucht.

Die Gruppe 47 verkörperte neben dem literarischen einen Machtdiskurs, den der Autor nicht durchschaut. Um so mehr steht er in seinem Bann. 1947 entzogen die Amerikaner der Zeitschrift Der Ruf, die von Alfred Andersch und Hans Werner Richter herausgegeben wurde, die Lizenz: Sie war ihnen zu national und besatzungskritisch ausgerichtet. Das war eine Machtdemonstration, die Andersch und Richter verstanden und der sie gehorchten. Dem Erfolg der Gruppe 47 ging die Unterwerfung voraus. Bereits 1950 stand eine US-Werbefirma als Sponsor für das Preisgeld bereit, und daß der US-Kulturpolitiker Malvin J. Lasky 1955 die Teilnehmer des Treffens in Berlin „in die Redaktion des vom CIA finanzierten Monat einlud, verstand sich fast von selbst“.

Den Autoren, die sich erst noch etablieren wollten, blieb nur, über ihre Erfahrung in dem entfremdeten Idiom der neuen Gewalten zu reden. Das zeigt sich beispielhaft in Alfred Anderschs Lebensbericht „Kirschen der Freiheit“ aus dem Jahr 1951, an dessen Ende im Sommer 1944 die Desertion in Italien steht, Anderschs „kleiner privater 20. Juli“. Der Autor will einen Moment existentieller Freiheitserfahrung schildern, der in einer Entscheidung und Lebenswende mündet. Jedoch steht der metaphysische Aufwand im krassen Mißverhältnis zur Banalität seiner Fahnenflucht. Andersch tritt zu einem Zeitpunkt zu den Amerikanern über, als die deutsche Niederlage deutlich absehbar ist. Mit dem Bericht vollzog er seine Ankunft im Westen auch literarisch nach und lieferte ein Gegenstück zur sozialistischen „Ankunftsliteratur“ der DDR.

Was bleibt vom Lob Böttigers übrig, die „Gruppe 47“ habe den „Demokratisierungsprozeß“ der Bundesrepublik vorangetrieben und die Verdrängung der NS-Vergangenheit aufgebrochen? Nicht viel mehr als die Reflexe der Flakhelfer-Generation, die Günter Maschke auf den Punkt gebracht hat: „Diese Generation, zu jung um die Prügel zu verstehen, die sie empfing, wurde ein Opfer der Gemeinschaftskundewelt, der Care-Pakete, der amerikanischen Stipendien für ‘Demokratiewissenschaft’ (Politologie) ...“ Sogar der Vorwurf der Verdrängung fällt hochpotenziert auf sie zurück.

Wenn der mit barocker Sprachkraft begnadete Günter Grass sich mehr und mehr – wie Böttiger zu Recht moniert – dem Jargon des politischen Leitartikels annäherte, lag das eben daran, daß die äußeren und die implementierten Fremdzwänge ihn vom eigenen Erfahrungsgrund abtrennten. „Warum erst jetzt?“, lautet 2002 der erste Satz der Novelle „Im Krebsgang“. Gemeint waren die Vertreibung, die Massenvergewaltigungen, die Tragik der jungen deutschen Soldaten und – wie sich nachträglich herausstellte – auch die Zugehörigkeit Grass‘ zur Waffen-SS. Er selber hatte dazu beigetragen, das Dritte Reich zu entwirklichen, zu dämonisieren, so daß er im Ergebnis nicht wagen konnte, das eigene Erleben in dieser Zeit zu thematisieren, ohne sich zum Teufel zu machen.

Die Gruppe 47 war selber ein Opfer jener Deformationen, die sie durch die gnadenlose Moralisierung und Politisierung des Literaturbetriebs provozierte. Ob sie darüber hinaus das unwissentliche Instrument einer in Übersee ersonnenen kulturpolitischen und massenpsychologischen Strategie war, ist ein Thema für künftige Forschungen. Böttiger hat ein faktenreiches, gut zu lesendes und auf der anekdotischen Ebene interessantes Buch verfaßt. Doch überschätzt er die literarische Bedeutung der Gruppe 47 und verfehlt ihren politischen und zeitgeschichtlichen Hintersinn.

Helmut Böttiger: Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb. Deutsche Verlagsanstalt, München 2012, gebunden, 480 Seiten, 24,99 Euro

Foto: Lesung auf der Tagung 1949 in Marktbreit, linkes Foto; Martin Walser, Ingeborg Bachmann und Heinrich Böll beim Empfang des Senders Freies Berlin, unten: Gnadenlose Moralisierung und Politisierung des Literaturbetriebs

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