© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/13 / 08. März 2013

„Das ist der Tribut, den wir der EU zollen“
Arbeitsmarkt: Die Alimentierung von Selbständigen entwickelt sich auch zum Einfallstor für Einwanderung ins deutsche Sozialsystem
Christian Schreiber

Was hat die Verschleierung von Arbeitslosigkeit, die Umfirmierung von Sozialhilfe- in Arbeitslosengeldempfänger, die Finanzierung obskurer Vierteljahresmaßnahmen sowie die Subventionierung von Niedriglöhnen die Steuerzahler bislang gekostet? Insgesamt 355,6 Milliarden Euro sind zwischen 2005 und 2012 ins Hartz IV-System geflossen, glaubt man einer Aufstellung des Bundesarbeitsministeriums. Fast ein Fünftel der Steuermilliarden floß nicht an Arbeitslose, sondern zu Veranstaltern von diversen „Maßnahmen“ und in die Verwaltung des Hartz-Kosmos.

Zusammen mit statistischen Tricks (Ein-Euro-Kräfte, Kranke, Lehrstellensuchende oder in Maßnahmen befindliche Erwerbslose gelten beispielsweise nicht als arbeitslos) hat der ganze Milliardenwaufand vor allem einen Zweck: Die Regierung kann sich mit Arbeitslosenzahlen nur knapp über drei Millionen schmücken. Daßes in Wahrheit wohl eher doppelt so viele sind, wird so geschickt verschleiert. Als mehrfach problematischer Bereich erweist sich dabei die wachsende Zahl der Aufstocker. So hat der Steuerzahler allein zwischen 2007 und 2011 (neuere Zahlen liegen bislang nicht vor) über 53 Milliarden Euro ausgegeben, um Niedriglöhne und prekäre Existenzen durch Hartz-IV aufzubessern. 2011 wurden an mehr als 1,21 Millionen Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften und Aufstocker dafür 10,73 Milliarden Euro ausgezahlt.

Um „Vermittlungserfolge“ vorweisen zu können, werden viele Arbeitslose in die vermeintliche Selbständigkeit getrieben: Ein Maurer, der seine Arbeit verlor, weil seine Firma Pleite machte, wurde mittels Anschubfinanzierung und einiger Kurse zum Einzelunternehmer umgeschult. Doch da sein Firmengewinn nicht ausreicht, muß der Staat ran – sprich: Der Handwerksmeister von nebenan muß mit seinen Steuern- und Sozialabgaben die eigene Konkurrenz alimentieren. „Wenn Subventionen im Spiel sind und ein Teil der Existenzgründungen eher aus der Not geboren zu sein scheint, liegt der Verdacht nahe, daß nicht wenige der aufgenommenen Aktivitäten wirtschaftlich nicht tragfähig sind“, resümiert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).

Auch Betrug scheint möglich, denn Selbständige könnten ihr Einkommen so herunterrechnen, daß sie auf dem Papier Anspruch auf Hartz IV hätten, beklagen Arbeitsvermittler. „Irgendwann muß man schwarze Zahlen schreiben oder – so weh es tut – die Selbständigkeit aufgeben“, forderte Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, in der Süddeutschen Zeitung, „der Steuerzahler kann nicht auf Dauer eine nichttragfähige Geschäftsidee mitfinanzieren“. Doch das würde die geschönte Arbeitslosenstatistik trüben.

Und das Aufstocker-Problem wird künftig noch größer – und teurer. Grund ist die Freizügigkeit innerhalb der EU. Zwar sind seit 2010 Hartz-IV-Leistungen vom EU-Sozialleistungskanon ausgenommen, doch dem Praxistest hält diese Regelung nicht stand. Daß beispielsweise ein Viertel der Fliesenleger aus Osteuropa kommt, ist dabei nicht das kostspieligste Problem. Zum sozialen Sprengsatz entwickelt sich vor allem die Zuwanderung von Zigeunerfamilien aus EU-Ländern ins deutsche Sozialsystem.

Eigentlich soll die volle Freizügigkeit für alle Bürger Rumäniens und Bulgariens erst ab 2014 gelten – doch viele nutzen „eine Regelungslücke und melden ein – nur anzeigepflichtiges Gewerbe an“, heißt es im „Roma-Statusbericht“ des Berliner Bezirksamts Neukölln. „Da das hier erzielte Einkommen nicht ausreicht, um die eigene Existenz zu sichern, haben sie gemäß den Vorschriften der Bundessozialgesetzgebung Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt für sich und ihre Familie.“ Aufgrund der Familiengröße und des geringen Einkommen seien sie Hartz-IV-Aufstocker.

Dieses goldene Schlupfloch macht Schule. Anfang 2012 waren allein in Neukölln 2.400 Gewerbe von Zuwanderern aus Rumänien und Bulgarien angemeldet, knapp hundert davon hatten die gleiche Anschrift. Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) gab sich im Focus ratlos: „Wer selbständig ist, der unterläuft die Regel, daß man eigentlich nur 90 Tage bleiben darf. Wenn Sie einen ordnungsgemäßen Aufenthalt haben, dann gelten alle Rechte – auch für das Kindergeld und Hartz IV. Das ist der Tribut, den wir der EU zollen.“

DIW-Wochenbericht 7/13: www.diw.de

„2. Roma-Statusbericht“ von Berlin-Neukölln: www.berlin.de

Foto: Zugewanderte Zigeuner in Berlin: Das Problem Hartz-IV-Aufstocker wird bald noch größer und teurer

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen