© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/13 / 01. März 2013

Ein Stückchen Frankreich in Deutschland
Kuriosum am deutschen Rhein: Ein gemeindefreies Gebiet in Baden gehört zum elsässischen Rheinau – seit bald 500 Jahren
Taras Maygutiak

Gemeindefreie Gebiete in Deutschland gibt es reichlich: In der Hauptsache handelt es sich um unbewohnte oder unbewohnbare Gebiete wie Truppenübungsplätze und Wasserflächen oder um Waldgebiete – die möglicherweise zwar von Obdachlosen oder Waldgeistern bewohnt sind, in denen sich jedoch niemand offiziell melden kann. Derlei Gebiete gehören meist entweder dem Bundesland, in dem sie liegen, dem Bund oder dessen Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Aber daß ein solches Areal zwar deutsches Hoheitsgebiet ist, der Boden jedoch dem Franzosen gehört, ist einmalig! Und das rechts des Rheins! „Rheinau, gemeindefreies Gebiet“ heißt die Fläche seit 31. Dezember 2010 offiziell.

Bekannt ist das Gebiet auch schlicht als „Rheinauer Wald“ und liegt rund 45 Kilometer nördlich von Freiburg im Breisgau direkt am Rhein. Die tausend Hektar große Fläche gehört der elsässischen Gemeinde Rhinau (Rheinau) und liegt auf deutscher Seite westlich des Örtchens Kappel, südlich entlang des Rheins ins Taubergießen-Gebiet hinein. Es sind – sieht man von der Fläche des Bodensees ab, der, weil Gewässer, auch gemeindefrei ist – die letzten zehn Quadratkilometer in Baden-Württemberg, die zu keiner Gemeinde gehören, nachdem Anfang des vergangenen Jahres das gemeindefreie Gebiet „Gutsbezirk Münsingen“ eines ehemaligen Truppenübungsplatzes in drei anliegende Gemeinden eingegliedert wurde.

Das ist so mit der Fläche einer französischen Gemeinde natürlich nicht möglich. Denn wir sind ein Rechtsstaat und Frankreich in innigster Freundschaft zugetan. 1938 war es möglich: Da mochte man sich nicht, und das Gebiet wurde kurzerhand enteignet und auf zwei reichsdeutsche Gemeinden aufgeteilt. Mit dem verlorenen Kriege änderte sich manches, und der Eigentümer bekam das hübsch bewaldete Gebiet am hier 250 Meter breiten Strom zurück. Heute sind die Grenzen zu Frankreich durch das Schengener Abkommen ohnehin offen, die einst fest und treu stehende Wacht am Rhein eine Geschichte aus unseliger „vordemokratischer Zeit“ –, wozu also etwas ändern, fragt man sich am Ort.

Die Gemeindefreiheit bedingt jedoch Besonderheiten – sei es bei der Unterhaltung von Flächen, bei den Steuern, die die Gemeinden erheben oder bei den Gemeinderats-, Landtags- und Bundestagswahlen. Im Zollhaus, etwa 200 Meter vor der Rheinfähre, wohnt eine ältere Dame. Die komme zu den Landtags- und Bundestagswahlen nach Kappel, bestätigt man im Rathaus von Kappel-Grafenhausen. Einen Gemeinderat mitwählen darf sie allerdings nicht.

Beim zuständigen Kommunalamt des Landratsamtes in Offenburg erklärt man den Sonderstatus: Zwar gehöre das Gebiet zu keiner Gemeinde, es zähle aber zum Kreisgebiet. So sei zum Beispiel das Landratsamt die zuständige Baurechtsbehörde. Der Kreiswahlleiter habe festgelegt, wohin Bewohner des gemeindefreien Gebietes zur Wahl müßten. Nach einer Bestimmung im Wahlrecht kann das ein nahe liegendes Rathaus sein. Wenn es um den Personalausweis oder den Paß geht, ist übrigens ebenfalls Kappel-Grafenhausen zuständig. Und nicht Paris. An der öffentlichen Wasserversorgung ist das Haus nicht angeschlossen, die Stromversorgung läuft übers Elektrizitätswerk Mittelbaden. Und die Hunde- oder Gewerbesteuer? Einen Hund hat die Dame nicht; das sei aber noch nie thematisiert worden, meint Herbert Lasch, Leiter des Kommunalamtes. Dasselbe gelte für die Gewerbesteuer. Schließlich gebe es dort keinen Gewerbesteuerhebesatz.

Auf der Hälfte der Strecke, zwischen Zollhaus und der nahe gelegenen Rheinfähre, gibt es tatsächlich ein Gewerbe. Es ist der winzige Kiosk von Ursula Nufer. Seit 15 Jahren habe sie den Kiosk, erklärt sie: „Die Pacht zahlen wir ans Rathaus im elsässischen Rhinau, Einkommens- und Umsatzsteuer in Deutschland.“ Von Gewerbesteuer sagt sie nichts. Die muß sie nämlich auch gar nicht berappen.

Wie es überhaupt dazu kam, daß es Teile der Rhinauer Gemarkung auf deutschem Staatsgebiet gibt, hat der Leiter des Kreisarchivs in Offenburg, Cornelius Gorka, genauer unter die Lupe genommen. Zwar ist der Rhein bereits nach dem Westfälischen Frieden 1648 als Staatsgrenze zwischen dem Königreich Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich grundsätzlich festgelegt worden. Die heutige Regelung soll auf den deutsch-französischen Grenzvertrag vom 14. August 1925 zurückgehen. Der Kreisarchivar datiert die Grenzziehung, aus der heute das gemeindefreie Gebiet resultiert, jedoch auf den 5. April 1840. Damals wurde im Zuge der Rheinbegradigung, die mehrere Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in Anspruch nahm, zwischen Baden und Frankreich der Rheinvertrag geschlossen. „Der Versailler Vertrag regelt lediglich die Unterhaltung und Nutzung“, meint er.

Die elsässischen Rhinauer indessen dürfen wohl als zähes Völkchen gelten: Die behaupten seit 1542 ihre grenzüberschreitende territoriale Integrität – bis heute.

Foto: Französische Gendarmen an der Grenzfähre: Zähes Völkchen

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