© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/13 / 01. März 2013

In die Ferne schweifen
Redakteure und ihre Heimat: Curd-Torsten Weick blickt aufs Peiner Land zurück / JF-Serie, Teil 9
Curd-Torsten Weick

Von wegen ... Sturmfest und erdverwachsen! Als waschechter Niedersachse darf man keine Hummeln im Hintern haben. Das Dasein eines Weltenbummlers geht schon gar nicht. Jedenfalls wenn es nach dem Texter und Komponisten des Niedersachsenliedes Hermann Grote geht.

Erdverwachsen und heimatverbunden wie Brakelmann, Adsche & Co. aus Büttenwarder. Doch halt. Das fiktive Fernsehdorf liegt in Schleswig-Holstein – könnte aber auch im Peiner Land spielen. Oder vielmehr dort gespielt haben.

Heimat? Was ist das? Geboren in den sechziger Jahren im Peiner Land, gingen die Gespräche von Großeltern, Onkels und Tanten nur um die alte Heimat. Das verlorene Land an der Weichsel.

Verloren, kalt und unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang. Das Wort Heimat stand für etwas Unheimliches, Mystisches.

Kein Vergleich zum Leben, das man als Kind und Jugendlicher auf dem Lande führte. Auf Bäume klettern und dieselben dann auch mal fällen. Den Garten umgraben. Kirschen, Johannisbeeren und Pflaumen pflücken. Hühner füttern. Holz sägen – am Samstag zur besten Bundesligazeit. Rüben hacken, Fußball im Wald spielen, die Bäume als Pfosten, und per pedes zur Schule stapfen.

Heimat spielte keine Rolle. Stattdessen wuchs mehr und mehr der Drang, in die Ferne zu schweifen. Eine Großstadt sollte es schon sein. West-Berlin kam da gerade recht. Raus aus Posemuckel – aufgehen in der Frontstadt. Bier, Blues und Buletten in einer kleinen Kreuzberger Wohnung, Hinterhof, 3. Etage. Die Rodgau Monotones im Quartier Latin, Bad Manners im Loft, Reggae Sunsplash in der Waldbühne und wilder Tanz im Linientreu.

Kam dann doch einmal Besuch aus der Provinz, wollte der zur Überraschung nur U-Bahn fahren. Ganz weltmännisch leitete man ihn daraufhin zuerst auf den Kurfürstendamm und dann in die Oranienstraße. Frei nach dem Motto: „Kebabträume in der Mauerstadt. Türk-Kültür hinter Stacheldraht. Neu-Izmir ist in der DDR. Atatürk der neue Herr“ (Deutsch Amerikanische Freundschaft, D.A.F). Eben, alles so schön bunt hier.

Dann, nach drei, vier Jahren war sie plötzlich da – die Heimat. Das Peiner „Paaner“ Platt, vormals gar nicht wahrgenommen, klang plötzlich so vertraut. Wälder, Felder, Äcker waren es ebenso. Das Schwelgen in Erinnerungen feierte und feiert plötzlich fröhliche Urständ: „Wir sind die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen. Heil Herzog Widukinds Stamm.“

Dabei sind die heimatlichen Gefilde kaum noch wiederzuerkennen. Die Bauern sind verschwunden, Hühner, Enten und Kirschbäume ebenso. Auf Wiesen und Äckern stehen Batterien von Windrädern oder schmucke Einfamilienhäuser. Von Jahr zu Jahr wächst das Peiner Land zusammen. Der dörfliche Charakter geht mehr und mehr verloren. Die vielen Kneipen haben längst dichtgemacht. Osterfeuer werden aufgrund der starken Rauchentwicklung abgesagt. Schützenfeste im kleineren Rahmen gefeiert. Paaner Platt wird kaum noch gesprochen. Schlimmer noch: Die Peiner Privatbrauerei Härke, seit 1890 für Heimat und Tradition stehend, hat Insolvenz angemeldet und wurde nun von der Einbecker Brauerei übernommen.

Die alte Heimat macht es einem wirklich schwer. Doch Augen zu und durch. Glücklicherweise potenzieren sich die Erinnerungen mit dem Lauf der Jahre. Schwelgen kann ich nun auch in Erinnerungen über die guten, alten Zeiten in Berlin: die Currywurst am Amtsgerichtsplatz in Charlottenburg, den Sonnenuntergang am Wannsee.

Schwärmen kann ich aber auch über das ferne Weana Blut und die Käsekrainer an Leos Würstelstand am Wiener Währinger Gürtel, über ein Astra-Pils und das Matjesbrötchen im Hamburger Hafen oder über den Duft der Ostsee auf Fischland.

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