© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/13 / 15. Februar 2013

Die Verleugnung des Ungleichen
Wir und Nicht-Wir
Peter Kuntze

Auf dem Höhepunkt der Beschneidungsdebatte stellte Charlotte Knobloch am 5. September letzten Jahres in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung die Frage: „Wollt ihr uns Juden noch?“ Der ehemaligen Präsidentin des Zentralrats der Juden antwortete Bundestagspräsident Norbert Lammert zehn Tage später an gleicher Stelle mit einem ebenso deutlichen wie selbstverständlichen „Ja“. Daß er dieses für die Mehrheitsgesellschaft ausgesprochene Ja mit der euphemistischen Aussage schloß „Ihr seid wir“, zeigte jedoch einmal mehr, wie schnell guter Wille reale Gegebenheiten außer acht läßt und sich und anderen schrankenlose Harmonie vorgaukelt.

Daß „wir“ und „ihr“ in Wirklichkeit keineswegs eins sind und die hochgepriesene Vielfalt mitnichten in multikulturellen Einklang mündet, geht schon aus den bisherigen Sonderregelungen für Juden und Moslems, für Judentum und eingewanderten Islam, hervor: Im Fall des Schächtens ist „unser“ Tierschutzgesetz gelockert, im Beschneidungsfall ist „unser“ Recht auf körperliche Unversehrtheit auch der Knaben eingeschränkt worden zugunsten „ihrer“ archaischen, angeblich unverzichtbaren, weil identitätsstiftenden Bräuche. Angesichts der diesbezüglichen, bis heute andauernden Debatten erweist sich aufs neue, wie wenig es im Grunde bedarf, daß aus den latenten, aber stets vorhandenen Differenzen zwischen „wir“ und „ihr“, zwischen Eigenem und Fremdem, eine Carl Schmittsche Dichotomie von Freund und Feind werden kann.

Um derartige Entwicklungen im Keim zu ersticken, hat die politisch-mediale Klasse mit juristischer Schützenhilfe schon vor geraumer Zeit eine innere Feind-Erklärung in Gang gesetzt, die Political Correctness, Antidiskriminierungsgesetze und eine alle gesellschaftlichen Bereiche abdeckende Dauerkampagne umfaßt: den seit dem Jahr 2000 eskalierenden „Kampf gegen Rechts“.

Hierbei handelt es sich keineswegs um eine politisch-geistige Auseinandersetzung, sondern um die Kriminalisierung eines Gedankenguts, das im Meinungsspektrum rechts von der immer weiter nach links driftenden Mitte beheimatet ist. Soweit es sich um die Ächtung der unsäglichen, längst widerlegten Rassenideologie des Nationalsozialismus handelt (Oswald Spengler: „Es geht nicht darum, Rasse zu sein, sondern Rasse zu haben“), wäre nichts dagegen einzuwenden. Doch in Wahrheit richtet sich die unter der dem Stalinismus entlehnten Parole des „Antifaschismus“ geführte Kampagne längst auch gegen Positionen, die seit Jahrhunderten ein genuin konservatives Welt- und Menschenbild begründen – und dies, obgleich sowohl das Grundgesetz (Artikel 4,1) als auch das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (Antidiskriminierungsgebot) die Freiheit des weltanschaulichen Bekenntnisses garantieren.

Im Mittelpunkt der Kritik, die sich mit der polemischen Aussage „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“ zu immunisieren versucht, stehen zwei zentrale Punkte:

• die Erkenntnis, daß aus der geistigen und körperlichen Ungleichheit der Menschen Wettbewerb, Leistung, Differenz, Elite und Meritokratie resultieren und sich daher aus der rechtsstaatlichen Gleichheit vor dem Gesetz keine soziale Gleichheit und keine bildungsmäßige Gleichmacherei ableiten lassen;

• die Feststellung der ethnisch-kulturellen Pluralität, aus der sich für jedes Volk, auch das deutsche, das selbstverständliche Recht auf die eigene Heimat, Geschichte, Sprache, Religion und so weiter ergibt und die es verbietet, unter der Flagge „universaler Werte“ die Welt durch Einmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten zu vereinheitlichen.

Der Realität sowohl der natürlichen Ungleichheit der Individuen als auch der Vielfalt der Völker und ihrer Kulturen steht die Wunschvorstellung entgegen, eines Tages könnten alle Erdbewohner, da sie sich letztlich doch in ihrer Eigenschaft des Menschseins gleich seien, Brüder werden und friedlich in einer staaten- und klassenlosen Weltgemeinschaft („One World“) zusammenleben. Diese beiden Grundeinstellungen – hier die vorurteilslose Betrachtung der Wirklichkeit, dort der sich aus einer jahrtausende alten Utopie speisende Veränderungswille – sind es, die hinter vielen, wenn nicht den meisten politischen Auseinandersetzungen stehen und zwangsläufig gegensätzliche Resultate bedingen: Wollen die einen, daß Ungleiches auch ungleich behandelt wird, versuchen die anderen, um der ersehnten Vereinheitlichung näher zu kommen, an alle und alles den gleichen Maßstab zu legen, was wiederum zu Relativierung und Egalisierung führt – sei es auf dem Gebiet kultureller Hervorbringungen, sei es hinsichtlich moralischer oder religiöser Werte, sei es im Bildungswesen, in der Geschlechterfrage (Gender Mainstreaming, „Homo-Ehe“), der sozialen Teilhabe oder in der Außenpolitik (Einheitswährung, „Vereinigte Staaten von Europa“).

Mag der Siegeszug des Relativismus und Egalitarismus hierzulande auch durch die deutsche Vergangenheit zusätzlich befeuert worden sein, so ist er doch längst ein sowohl die USA als auch alle westeuropäischen Länder betreffendes Phänomen. Der von sämtlichen im Bundestag vertretenen Parteien in nuancierter Abstufung getragene Feldzug für die Egalité findet unter den Parolen „Respekt“, „Toleranz“ und „Weltoffenheit“ statt und richtet sich im Umkehrschluß gegen „Gewalt“, „Rassismus“, „Antisemitismus“ und „Nationalismus“.

All diese so menschenfreundlich und vernünftig klingenden Vokabeln haben indes einen Doppelsinn nach Orwellschem Muster: „Respekt“ und „Toleranz“ meinen das Akzeptieren aller noch so bizarren Lebensstile und sexuellen Gepflogenheiten, als „Weltoffenheit“ gilt die Multiethnisierung und Multikulturalisierung des eigenen Landes. Wer dagegen Einwände erhebt, wird sofort des „Rassismus“, der „Fremdenfeindlichkeit“ und des „Nationalismus“ geziehen, wobei die Toleranzprediger eine erschreckende Intoleranz an den Tag legen und es bei Demonstrationen „gegen Rechts“ dulden, daß in ihren Reihen vermummte Schläger mit brutaler Gewalt selbst gegen Polizisten vorgehen. Darin scheint Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse kein Problem zu sehen: Im November letzten Jahres warb er um Verständnis für alle, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. „Und die“, so erklärte der Sozialdemokrat in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, „darf man nicht des Linksextremismus verdächtigen, nur weil sie sich kämpferisch, gewiß durchaus auch ‘militant’ gegen Rechtsextremismus und Gewalt wehren.“

„Kein Mensch ist illegal“ – diese Propagandafloskel diverser als Menschenrechtsorganisationen auftretender Lobbyverbände bringt die auch hinter dem „Kampf gegen Rechts“ stehende Eine-Welt-Ideologie am treffendsten zum Ausdruck. Unterstützt von Grünen und Linken jeglicher Couleur fordern Vereine wie „Pro Asyl“ oder der „Flüchtlingsrat“ ungeachtet der jeweiligen Fluchtmotive die Abschaffung von Abschiebungen, die Anerkennung ihrer Klientel als Verfolgte, die Eingliederung aller Migranten in den deutschen Sozialstaat, die Beseitigung der Residenzpflicht sowie die Erlaubnis sofortiger Arbeitsaufnahme – mithin die Gleichstellung mit jedem deutschen Steuerzahler.

Daß die politisch-mediale Klasse von „Zuwanderern“ („Migranten“) und nicht von „Einwanderern“ („Immigranten“) spricht, ist kein Zufall, sondern ein semantischer Trick. Mit ihm soll bemäntelt werden, daß Deutschland im Gegensatz etwa zu Kanada, den USA oder Australien kein klassisches Einwanderungsland ist, das seine möglichen Neubürger ganz selbstverständlich entsprechend deren Nutzen für Wirtschaft und Gesellschaft auswählt. Eine derartige an den legitimen nationalen Interessen ausgerichtete Politik ist hierzulande verpönt. So warf die Süddeutsche Zeitung im Zuge der Debatte um Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ dem ehemaligen Bundesbanker vor, daß er „Menschen kalt nach ihrem ökonomischen Wert in nützlich und nutzlos einteilt“ (SZ, 27. August 2010). Doch mittlerwelle scheint die Zeitung dazugelernt zu haben. Am 21. Dezember letzten Jahres konstatierte einer ihrer Kommentatoren, Armut in der Bundesrepublik sei nicht zuletzt darauf zurückzuführen, „daß vor allem solche Zuwanderer ins Land kommen, die Sozialforscher als ‘bildungsfern’ bezeichnen – mit entsprechend schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt“.

Die verschleiernde Semantik der Herrschenden hat auch Bundespräsident Joachim Gauck überraschend schnell übernommen. Er bediente sich ihrer, als er kürzlich in seiner ersten Weihnachtsansprache von Einheimischen und Zugezogenen ein „solidarisches Land“ einforderte. Um dabei nicht das „deutsche Volk“, laut Grundgesetz noch immer der Souverän des Staatswesens, beim Namen zu nennen, umschrieb er die Autochthonen als „jene, die seit Generationen hier leben“.

Auf die Dauer dürfte es indes nicht gelingen, mit Hilfe der Semantik die Entwicklungsprozesse in die erwünschten Bahnen zu lenken und die Wirklichkeit in ein Licht zu tauchen, das alles Ungleiche hinter einem Nebel der Harmonie verschwinden läßt. Seit Jahren schon läßt sich beobachten, daß die Kluft zwischen Wählern und Gewählten, zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung stetig größer wird. Symptome dieser fortschreitenden Distanz sind der Rückgang der Wahlbeteiligung wegen der Alternativlosigkeit im bestehenden Parteiensystem sowie die Nutzung diverser Internetforen, auf denen Meinungen artikuliert werden, die bislang der politischen Korrektheit zum Opfer fielen. Dies war so im Fall Sarrazin, dies zeigt sich anläßlich der Verschuldungs- und der Euro-Krise und, noch allgemeiner, angesichts des Abstiegs des Westens mit seinem liberal-kapitalistischen Demokratiemodell.

In diesen historischen Zeiten ist der deutsche Konservatismus als weltanschauliche Gegenkraft – anders als etwa der amerikanische – ein Totalausfall. Seine wenigen verbliebenen Vertreter können kein glaubwürdiges strategisches Konzept vorlegen: Die einen klammern sich an die Vorstellung, mit dem in Europa seit der Aufklärung zur Privatsache gewordenen Christentum lasse sich noch einmal Staat machen. Andere reden sich ein, irgendwie und irgendwann würden sich die zehner, zwanziger und frühen dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wiederholen, so daß man rechtzeitig das Gedankengut der „Konservativen Revolution“ aus seinem Dornröschenschlaf erwecken müsse. Eine dritte Gruppe lebt in der Hoffnung einer „Renovatio imperii“, einer Art Rückkehr des 1806 entschlummerten Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation – diesmal im Zeichen eines modernen Europas.

All dies jedoch wird mit Sicherheit nicht geschehen. Um etwas festeren Boden unter die Füße zu bekommen, sollte sich ein moderner Konservatismus zunächst als geistigen Habitus auf die preußischen, in Wahrheit altrömischen Tugenden besinnen und sich in einer zweiten Renaissance entscheidendes Rüstzeug aus klassisch-antikem Denken holen. Als Grundlage sollten das Streben nach Freiheit sowie die Selbstverantwortung des Individuums mit allen Rechten, aber auch mit allen Pflichten dienen. Mit der auf Cato den Älteren zurückgehenden Devise „Jedem das Seine“ als Kompaß lassen sich nahezu alle Belange des Gemeinwesens gestalten – öffentliche Bildung, Aufgabe und Begrenzung des Sozialstaats, Ausrichtung sowohl der aufgrund der demographischen Misere erforderlichen Einwanderung als auch der gesamten Außenpolitik an den jeweiligen nationalen Interessen. Diese Art des Herangehens an die gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben wäre ein wirksames Antidot gegen staatliche Entmündigung, etatistische Umverteilung und kulturellen Relativismus gemäß der als Gerechtigkeitsformel drapierten Gefälligkeitsparole „Allen das Gleiche“.

 

Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das EU-Konzept der linksliberalen Eliten („Das Neue Jerusalem“, JF 26/12).

Foto: Scheidung von Freund und Feind ein Gebot der Zeit: Verschleiernde Semantik der Herrschenden

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