© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/13 / 15. Februar 2013

Zwischen Harz und Heide
Redakteure und ihre Heimat: Christian Vollradt und das Braunschweiger Land / JF-Serie, Teil 7
Christian Vollradt

Gleichmäßig schnurrt die Kette über das Ritzel. Viel mehr ist nicht zu hören an diesem frühen Spätsommerabend. Die Schwalben noch und das sonore Brummen der Mähdrescher, die auf den Feldern gleichmäßig ihre Runden drehen, dichte Staubwolken hinter sich herziehend. Die Hitze des Tages weicht langsam einer feuchter werdenden Abendkühle, es duftet intensiv nach frisch geschnittenem Getreide. Ich fahre auf meinem Rad das Bächlein Altenau entlang, zu meiner Rechten liegt schräg hinter mir der Elm, links die Asse.

Noch ein paar Kilometer in die Pedale treten, dann werde ich zu Hause sein, verschwitzt und müde, aber sehr zufrieden. Diese Stimmung habe ich dutzend-, wenn nicht schon hundertfach erlebt, hier oder nicht weit entfernt an anderen, ähnlichen Stellen. Es ist ein typisches Erlebnis, mit dem ich auch ein starkes Heimatgefühl verbinde.

Heimat. Das ist kein Bild, sondern eher eine Collage. Aus Landschaft und Gebäuden, aus Gerüchen und Geräuschen, aus Erinnerung und Gegenwärtigem. Die Innenstadt von Wolfenbüttel, das Schloß und die berühmte Bibliothek, Braunschweigs historischer Kern mit Dom und Burgplatz. Die Wege und Parks entlang der Oker, das Lechlumer Holz. Heimat ist jedoch nicht nur das Schöne, auf das man gerne verweist; ist nicht nur Fachwerk und Renaissance, sondern auch Waschbeton und Milchglas. Es ist das, was – gefühlt – immer schon so war; Rituale: der wöchentliche Probenabend des Posaunenchores genauso wie das jährliche Osterfeuer.

Ich habe schon in Gegenden gelebt, die „schöner“ sind; sie haben die hübscheren Städte, lieblichere Täler und reizvollere Berge, dort ist es beschaulicher, man spricht einen klingenden Dialekt, hat feinere Spezialitäten und das interessantere Brauchtum. Wer macht schon Urlaub im Braunschweigischen? Ja, im Harz vielleicht. Oder in der Heide. Aber dazwischen ...? Nein, hier ist Durchschnittsdeutschland, man ist weder richtig Groß- noch bloß Provinzstadt, sondern irgendwie so dazwischen. Und die Landschaft liegt nicht so herum, weil sie schön aussieht, sondern weil guter Boden gute Frucht hervorbringt, weil darauf gearbeitet und Geld verdient wird.

Besonders an meiner Heimat ist vielleicht nur, daß sie eines Tages schlagartig größer wurde, ganz ohne mein Zutun. Und zwar ziemlich genau am 12. November 1989, als auch bei uns der „Eiserne Vorhang“ fiel und „unsere“ Wiedervereinigung stattfand. Ein – nicht nur – emotionaler Ausnahmezustand, der immer noch nachwirkt. Auf einmal kein Zonenrandgebiet mehr sein. Auf einmal konnte man (wieder)entdecken, was eigentlich immer dazugehörte, aber zuvor unerreichbar schien. Fallstein, Huy, Ostharz; Städte wie Osterwieck, Ilsenburg, Wernigerode und Blankenburg. Der Brocken, auf dem man bei guter Sicht jedes Gebäude erkennen kann, ist seitdem kein bloßes Sehnsuchtsziel mehr.

Zur Heimat-Collage gehört genauso der süßherbe Maischegeruch, der von der Brauerei herüberweht, so daß man sich unversehens ein kühles „Wolters“ wünscht. Oder der glühendrote Himmel im Westen, wenn bei den Stahlwerken in Salzgitter Abstich in den Hochöfen ist. Es gehören dazu die (leider immer weniger) Menschen, die noch in der hier regional verbreiteten Mundart sprechen – die Laute stets vorn im Mund bildend, über den s-pitzen S-tein s-tolpernd und mit dem sprichwörtlichen „klaren A“.

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