© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/13 / 15. Februar 2013

Ein Papst auf der Anklagebank
Pius XII. im Kreuzfeuer der Kritik: Vor 50 Jahren sorgte Rolf Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“ für gewaltige Furore
Felix Dirsch

Der junge Dramatiker Rolf Hochhuth hätte keinen besseren Zeitpunkt als die frühen 1960er Jahre, eine Periode weitreichender Umbrüche, finden können, sich mit seinen Angriffen auf den wenige Jahre zuvor verstorbenen Papst Pius XII. wirkungsvoll in Szene zu setzen. Der frühere Nuntius war noch in den fünfziger Jahren weit über das katholische Lager hinaus in Deutschland populär. Man hatte sein berühmtes Schreiben an die deutschen Bischöfe vom 4. März 1948 nicht vergessen, in dem er die Vertreibung von Millionen Deutschen aus ihrer Heimat geißelte. Gegen den Vorwurf der Kollektivschuld wandte er sich ohnehin mit deutlichen Worten.

Immerhin waren damals die katholischen Bastionen noch nicht so geschleift, daß es an (mitunter vehementen) Einwänden gegen Hochhuths tendenziöses Theaterstück gefehlt hätte. Am 20. Februar 1963 war es soweit: „Der Stellvertreter“ wurde in Berlin im Theater am Kurfürstendamm unter seinem berühmten Intendanten Erwin Piscator, der aus seiner kommunistischen Vergangenheit nie einen Hehl machte, uraufgeführt. Der Text erschien fast gleichzeitig in einer Ausgabe bei Rowohlt.

Hochhuths Kernaussage: Pius XII., Pontifex von März 1939 bis zu seinem Tod im Oktober 1958, hätte mittels ener-gischer Proteste der Judenvernichtung Einhalt gebieten können. Durch die Unterlassung dieser Hilfeleistung habe er immense Schuld auf sich geladen.

Das Stück löste ein gewaltiges mediales Echo und ein gesellschaftspolitisches Beben aus. Zahlreiche Angehörige der damaligen Geisteselite meldeten sich zu Wort, darunter Sebastian Haffner, Golo Mann, Karl Jaspers, Carl Amery und die in New York lebende Hannah Arendt. In Briefen an den Rowohlt-Verlag äußerten sich Albert Schweitzer, Ludwig Marcuse, Carl Zuckmayer sowie Martin Walser. Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion stellten eine Kleine Anfrage zu den Angriffen auf Papst Pius XII., die der Bundesaußenminister beantworten mußte. Die Nation war in Aufruhr versetzt worden. Hochhuth hatte für den ersten großen Theaterskandal der Nachkriegszeit gesorgt.

Die Behauptung Hochhuths wird durch Hinweise auf punktuell erfolgreiche kirchliche Kritik an einzelnen Aktionen des nationalsozialistischen Regimes gestützt. Angeführt wird unter anderem die zeitweilige Einstellung der NS-Mordtaten im Rahmen des Euthanasieprogrammes aufgrund der beherzten Predigten des Bischofs Galen von Münster.

Das Oberhaupt der katholischen Christenheit steht in Hochhuths Anklage hingegen als Zauderer und Schweiger da. Die Sicherung seiner Pfründe habe ihm mehr bedeutet als der Aufschrei gegen das Unfaßbare. In der vielleicht am meisten berührenden Szene des Stücks läßt der Verfasser Riccardo als „Stellvertreter“ des Papstes nach Auschwitz gehen. Der junge Geistliche bringt den Mut auf, an dem es seinem obersten Chef angeblich ermangelt. Eine zweite tragische Gestalt der Zeitgeschichte tritt auf: Kurt Gerstein, gläubiger Katholik und SS-Mann, der, seinem Gewissen verpflichtet, das streng unter Verschluß gehaltene Geheimnis der „Endlösung“ verbreiten hilft.

Ist es nötig, sich mit den Einseitigkeiten Hochhuths noch auseinanderzusetzen, nachdem 2007 durch einen ehemaligen Geheimdienstoffizier der KGB-Hintergrund der Desinformationskampagne bekannt wurde? Ja, immerhin gelang es dem Schriftsteller, das Pius-Bild umzukehren. Natürlich ist nicht ganz von der Hand zu weisen, daß Pius XII. als ausgebildeter Kirchendiplomat manchmal etwas zuviel von dieser Kunst an den Tag legte. Was aber hätte er erreichen können? Er wußte um die Schwäche seiner Bataillone. Die holländischen Bischöfe – und das ist nur ein Beispiel! – haben die Leiden der Juden in einem Hirtenbrief klar benannt. Was aber war die Folge? Die zum katholischen Glauben konvertierten Juden wurden – wie von den Besatzern angekündigt – deportiert, darunter die später seliggesprochene katholische Philosophin jüdischer Herkunft Edith Stein.

Die angebliche Macht des Papstes hat nicht einmal das Martyrium zahlloser Priester und katholischer Laien verhindern vermocht, geschweige denn am Schicksal der Juden etwas ändern können. Mag auch mancher namenlose Priester mutiger gewesen sein als der Papst im noch relativ sicheren Vatikan – der Pontifex maximus hat eine andere Verantwortung als ein Dorfpfarrer.

Die Riccardo-Szene ist rührend, aber wirklichkeitsfremd. Felix Trösch, Basler Pfarrer und einer der publizistischen Verteidiger Pius XII., schrieb seinerzeit in einem längeren Artikel: „Die Kirche ist im Laufe der Jahrhunderte immer wieder zur Kirche des Schweigens geworden und hat im Wissen um Dämonie, Schuld und Sünde schmerzlich dulden gelernt in der Solidarität mit der ganzen Welt: Diese zutiefst christliche Sicht dem Papst jener grauenvollen Zeit einfach abzusprechen, scheint uns vermessen, sie nicht zu verstehen – ist menschlich.“

Zwar hat die Polemik wider den Pacelli-Papst im Zuge seiner geplanten Heiligsprechung Konjunktur. Jedoch ist die seriöse zeitgeschichtliche Forschung längst zu anderen Resultaten gekommen. So belegt etwa die Untersuchung von Michael Hesemann 2008 („Der Papst, der Hitler trotzte“), daß der zu Unrecht Gescholtene, direkt oder indirekt, etwa 800.000 Juden das Leben gerettet hat. Seine heftigen Proteste gegen die Verfolgungs- und Unterdrückungsmaßnahmen sind in diesem Buch in Faksimileauszügen dokumentiert.

Ein Teil der Nachweise war freilich auch schon früher zu lesen, etwa in Publikationen von Pinchas Lapide. Die vielleicht schönste Geste zugunsten des zuwenig gewürdigten „Gerechten unter den Völkern“ stammt von dem römischen Oberrabbiner Israel Zolli. Dieser überlebte den Holocaust durch das Eingreifen des Papstes. Aus Dankbarkeit ließ er sich taufen und nahm als Taufname den Vornamen seines Retters, Eugenio, an.

Der hoffentlich bald zur Ehre der Altäre Erhobene wird nicht zu den Heiligen mit den geringsten Verdiensten für die Kirche (und weit über sie hinaus) gehören.

Foto: Rolf Hochhuth (M.) bei einer Probe zu seinem Stück „Der Stellvertreter“ mit dem Regisseur Ernst Kuhr (links außen) sowie den Schauspielern Kurt von Ruffin und Ingeborg Weickart: Großer Theaterskandal

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