© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/13 / 15. Februar 2013

„Der digitale Verfall“
Wir haben uns den Computern ausgeliefert. Das wird nicht ohne Folgen bleiben, meint Manfred Spitzer in seinem Bestseller: Der Internet-Gesellschaft droht die digitale Demenz.
Moritz Schwarz

Herr Professor Spitzer, Ihr Buch, so sagt der Deutschlandfunk, „trifft einen Nerv“. Warum?

Spitzer: Ich glaube, weil die Zeit einfach reif für eine Reflexion darüber ist, was der Computer mit uns macht.

Was macht er mit uns?

Spitzer: Das kommt darauf an, was Sie mit ihm machen. Wenn Sie ihn für echte geistige Arbeit nutzen, ist das ungefährlich. Wenn aber deutsche Kinder durchschnittlich siebeneinhalb Stunden täglich – die Zahl ist belegt – daddeln, dann besteht die Gefahr digitaler Demenz.

Schon 2006 haben Sie mit Ihrem Buch „Vorsicht Bildschirm!“ eine Debatte ausgelöst.

Spitzer: Die allerdings nicht zu vergleichen war mit dem jetzigen Wirbel um „Digitale Demenz“. Ich glaube, das Buch hat deshalb so eingeschlagen, weil es ein Problem aufgreift, das viele Eltern wahrnehmen, mit dem sie sich jedoch allein gelassen fühlen.

Warum aber bringt Ihr Buch so viele Experten und Journalisten auf die Palme?

Spitzer: Das frage ich mich auch, denn das Buch ist kein Besinnungsaufsatz, sondern basiert auf der Auswertung von vierhundert zum Teil neuesten Studien.

Die „FAZ“ beschimpft Sie als „Krawallforscher“, die „Stuttgarter Zeitung“ vergleicht Sie mit Thilo Sarrazin, die Computerzeitschrift „c’t“ nennt Ihr Buch „dumpf“, und für die „Süddeutsche Zeitung“ ist es „krude und populistisch“.

Spitzer: Das machen die, weil sie keine Gegenargumente, haben und so wird mit Schlamm geworfen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die ARD schlug mir vor, Aufnahmen im Wald zu machen. Nur um mich dann in ihrem Fernsehbericht als eine Art Technikfeind darzustellen, dazu passen natürlich die Bilder im Wald. Experten, die mir in dem Beitrag widersprachen, wurden dagegen im Labor und bei der Arbeit gefilmt: Dort der Fundamentalist, hier die Wissenschaftler – das war die manipulative Botschaft.

Die „FAZ“ argumentiert, Ihre Methode des Populismus sei, „jeden Hinweis auf die Vielschichtigkeit des Themas mit der Dringlichkeit einer Behandlung (der Symptome) zurückzuweisen.“

Spitzer: Das ist Quatsch. Ich fange mal vorne an: Wenn, wie gesagt, Kinder im Durchschnitt siebeneinhalb Stunden täglich daddeln, dann kann das aus Sicht der Hirnforschung eines ganz klar nicht haben: keine Auswirkungen.

Warum nicht?

Spitzer: Weil sich unser Gehirn dauernd ändert, je nachdem, was wir damit anstellen. Das fällt vor allem bei Kindern ins Gewicht, deren Gehirne sich noch ausbilden. Aber auch beim Erwachsenen sterben ständig alte, wachsen neue Hirnzellen nach. Geistige Arbeit baut Gehirnverbindungen – sogenannte Synapsen – auf. Nimmt uns der Rechner diese geistige Arbeit ab, baut das Gehirn ab.

Der Braunschweiger Neurobiologe Martin Korte etwa widerspricht: Der Rechner fordert das Gehirn heraus und kann so zur Verbesserung des Denkvermögens führen.

Spitzer: Wie gesagt, wenn Sie einen Computer wirklich zum Lernen nutzen, dann ist dagegen gar nichts einzuwenden. Die meisten aber nutzen ihn für anderes, zum Spielen, Kommunizieren oder um uns die Arbeit zu erleichtern. Das ist bis zu einem gewissen Grad vertretbar, aber im Übermaß – und das ist bei vielen Menschen die Realität – führt dies zu zahlreichen negativen Folgen. Vor allem Kinder gehen hilflos in diese Falle. Deshalb sollten wir unsere Kinder vor den neuen Medien schützen – und sie nicht noch damit anfixen.

Sie haben den Begriff „digitale Demenz“ nicht erfunden, aber mit Ihrem Buch in Deutschland in Umlauf gebracht. Hirnforscher sagen aber, es gebe keine wissenschaftlichen Beweise für einen solchen Effekt.

Spitzer: Der Begriff wurde ursprünglich 2007 von koreanischen Ärzten geprägt, die damit beschrieben, worunter junge Männer leiden, die zuviel mit dem Computer unterwegs waren, etwa Gedächtnisstörungen, Konzentrationsprobleme, Burnout-Symptome etc. Mein Buch wird derzeit in elf Sprachen übersetzt. Das zeigt doch, daß es sich nicht nur um die schräge Idee eines deutschen Professors handelt, sondern um ein Problem, das überall auf der Welt in digital geprägten Gesellschaften auftritt.

Beim Wort Demenz denkt jeder sofort an Altersdemenz, also den „irreversiblen Verlust kognitiver Fertigkeiten“.

Spitzer: Demenz ist Latein und bedeutet übersetzt „geistiger Niedergang“. In der Medizin gibt es in der Tat eine ganze Reihe von Demenz-Erkrankungen, deren bekannteste sicher Alzheimer ist. Das allerdings meine ich nicht, wenn ich digitale Demenz sage – ich sage also nicht, daß sich durch den Gebrauch des Computers Plaques im Gehirn bilden, wie das bei der Alzheimer-Demenz der Fall ist. Wenn ich den Begriff verwende, dann meine ich das, was die koreanischen Kollegen damit bezeichnen. Nämlich geistigen Niedergang durch digitalen Konsum – wobei sich dieser Niedergang auch auf den emotionalen und psychischen Zustand destruktiv auswirkt. Das heißt, die Leute werden zum Beispiel depressiv oder „willenlos“, können sich etwa nicht mehr disziplinieren.

Sie räumen selbst ein, daß es keine Studie gibt, die digitale Demenz nachweist.

Spitzer: Und die kann es auch gar nicht geben, weil es diese Technologien noch nicht lang genug gibt. Eine solche Studie müßte über vierzig Jahre und mehr laufen, um seriös zu sein.

Wie können Sie dann als Wissenschaftler so sicher von digitaler Demenz sprechen?

Spitzer: Mein Buch stützt sich auf Indizienbeweise und versucht Erkenntnisse aus der Psychologie und aus der Hirnforschung zusammenzuführen. Wie gesagt gilt auch für unser Gehirn, daß das, was man nicht trainiert, abgebaut wird. Wenn Sie etwa nur noch nach dem Navigationsgerät fahren, leidet ihre Fähigkeit, sich ohne zurechtzufinden. Wenn Sie nur noch googeln, statt zu versuchen Texte selbst zu verstehen, leiden Ihre hermeneutischen Fähigkeiten – also einen Text geistig zu durchdringen. Und wenn Kinder, die sich noch in der Entwicklung befinden, sieben Stunden am Tag vor dem Computer sitzen, dann fehlen ihnen wichtige vitale und soziale Eindrücke und Reize, die sie bei einer nichtdigitalen, aktiven Freizeitgestaltung haben. Dazu kommen indirekte Effekte, etwa durch die vielen neuen Anforderungen, die digitale Medien an uns stellen, wie ständige Erreichbarkeit. Jeder kennt das, leicht gewinnen diese Geräte „Kontrolle“ über unser Leben, was zu Streß führt. Vermehrt Streßhormone im Körper bewirken aber ein verstärktes Absterben von Gehirnzellen. Oder: Übermäßiger Computerkonsum führt leicht zu schlechtem Schlaf, vor allem wenn man bis in die späte Nacht vor dem Bildschirm sitzt. Schlechter Schlaf bewirkt wiederum eine prädiabete Stoffwechsellage, was die Alzheimergefahr erhöht. Unter digitaler Demenz verstehe ich also ein ganzes Bündel an Problemen und Gefahren.

Sind Sie aber nicht auch selbst mit schuld, wenn Sie mißverstanden werden? Leisten vereinfachende Formulierungen oder kulturpessimistische Warnungen, die sich als rot gedruckte Schlagzeilen auf dem Umschlag Ihres Buches finden, wie „Wir klicken uns das Hirn weg“ oder „Die Grundlagen unserer Gesellschaft sind in Gefahr“, dem Eindruck des Populismus nicht Vorschub?

Spitzer: Nein, ich halte diese deutlichen Formulierungen für absolut angemessen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus einer der führenden US-Wissenschaftszeitschriften, der Proceedings of the National Academy of Sciences: Chinesen schreiben ihre Schriftzeichen nicht direkt in ihre Rechner, denn dafür gibt es zu viele davon. Statt dessen tippen sie mit lateinischen Buchstaben in Lautschrift, bis ein Programm das gemeinte chinesische Schriftzeichen erkennt und einfügt. Folge: Die Chinesen verlernen ihre Schrift. Was dreitausend Jahre überdauert hat, gerät jetzt durch den Gebrauch digitaler Medien in wenigen Jahren in Gefahr. Das hat mittlerweile sogar die chinesische Regierung auf den Plan gerufen! Ich glaube also in der Tat, daß digitale Demenz auch kulturellen Verfall bedeutet. Und daher halte ich die Schlagzeilen auf dem Buchumschlag auch für gerechtfertigt.

Trotz der massiven Verrisse in den Medien verkauft sich Ihr Buch exzellent.

Spitzer: Ja, zeitweilig rangierte es auf Platz sieben der Spiegel-Bestsellerliste, derzeit Platz neun. Die Menschen, vor allem viele Eltern, spüren, daß die Besorgnisse, die sie infolge ihrer Erfahrungen mit digitalen Medien haben, eben doch nicht unbegründet sind.

Der Verkaufserfolg ist allerdings kein Beweis dafür, daß Ihre Thesen zutreffen. Vielleicht bedienen Sie einfach nur typisch deutsche Technikängste?

Spitzer: Der Vorwurf ist absurd, denn es sind tatsächlich die Medien, die Ängste schüren. Etwa wenn sie immer wieder darauf anspielen, daß Eltern, die sich dem gegenwärtigen Zeitgeist nicht unterwerfen, dafür verantwortlich sind, wenn ihr Kind erst sozial, eines Tages auch beruflich abgehängt sein wird.

Welcher Zeitgeist?

Spitzer: Das Mantra, möglichst immer mehr neue Medien schon in Kinderzimmer, Kindergärten und Schulen zu bringen. Motto: Man kann gar nicht früh genug damit anfangen! Den Eltern wird weisgemacht, schuld an der Vereinsamung und dem späteren sozialen Abstieg ihrer Kinder zu sein, wenn sie da nicht mitmachen. Und natürlich ist das für jeden Vater oder jede Mutter die Horrorvorstellung schlechthin! Alle bedienen sie genau diese Ängste, Medien, Politik, Schulen und die Industrie. Tatsächlich aber besagen die Forschungsergebnisse etwas ganz anderes: Nämlich nicht je weniger, sondern je mehr die Leute online sind, werden sie soziale Analphabeten. Es wird propagiert, je mehr wir digitale Medien auch den schwächeren sozialen Schichten zugänglich machen, desto größer seien die Aufstiegschancen. Das stimmt einfach nicht, Studien haben das genaue Gegenteil beobachtet: Digitale Medien wirken auf prekäre soziale Verhältnisse wie ein Brandbeschleuniger auf einen Brand, sie befördern die soziale Spaltung. Und in Kindergärten und Grundschulen fördern sie nicht den Bildungserfolg, sondern gefährden ihn nachweislich. Und selbst der Computer im Jugendzimmer eines 15jährigen macht den Schulerfolg nicht besser, sondern schlechter, wie die Pisa-Daten nachgewiesen haben. Die Wahrheit ist, in den meisten Fällen erweist sich der Computer als Lernverhinderungsmaschine.

Tatsächlich lautet die Alternative zum Daddeln am Rechner allerdings nicht Lernen und Bilden, sondern Blöd-TV und Trivialliteratur. Was wäre damit gewonnen?

Spitzer: Über die fatalen Folgen überhöhten Fernsehkonsums habe ich schon 2006 geschrieben, das Lesen von Büchern aber unterschätzen Sie: Denn beim Lesen decodieren Sie Zeichen, da muß das Gehirn ganz schön arbeiten und den Rest müssen Sie in Ihrer Phantasie kreieren. Ihr Gehirn ist dabei also keineswegs passiv. Doch all diese Zusammenhänge werden ignoriert, statt dessen wird von den Multiplikatoren das Gegenteil verkündet und die Leute dazu gebracht, mit ihrem letzten Geld dem Kind einen Computer zu kaufen – damit dieses dann in der Schule noch schlechter wird. Ich finde das einfach empörend!

Der US-Autor Steven Johnson meint, daß gerade der Entscheidungszwang, dem man bei Computerspielen ausgesetzt ist, durchaus kognitive Fähigkeiten trainiert.

Spitzer: Ausgemachter Unsinn, vermutlich wird der Mann von Electronic Arts bezahlt, wie so mancher andere Autor auch, der sich zu dem Thema äußert. Die berühmten Ballerspiele etwa verlangen die Aufmerksamkeit zu streuen, weil der Feind von überall kommen kann. Also das genaue Gegenteil von echter Konzentration. Vor allem aber sind Computerspiele darauf angelegt, süchtig danach zu werden – sie werden gezielt so programmiert, um Kasse zu machen. Daß das funktioniert, wurde schon vor Jahren mit Kernspintomographie-Untersuchungen bewiesen. Wir legen also unseren Kindern süchtig machenden Stoff etwa unter den Weihnachtsbaum, wenn wir ihnen eine Playstation oder Xbox schenken. In Deutschland haben wir inzwischen eine halbe Million Computer- und Internetsüchtige und zwei Millionen entsprechend suchtgefährdete Menschen. Aber unsere Politik ist, den Stoff auch noch in Schulen und Kindergärten zu tragen.

Sie kritisieren Initiativen wie „Schule ans Netz“, unterstützt vom Bundesbildungsministerium, deren Ziel es ist, jeden Schüler mit einem eigenen Rechner auszustatten.

Spitzer: Natürlich, und ich kritisiere, wenn der Kulturstaatsminister „Crisis II“ – ein Killerspiel ab 18, schlimmer als das berüchtigte „Counterstrike“ – 2012 öffentlich mit einem Preis auszeichnet. Ich kritisiere es, wenn das Bundesgesundheitsministerium empfiehlt, seinem Kind eine Playstation zu kaufen – übrigens nicht eine „Spielkonsole“, sondern ausdrücklich eine Sony „Playstation“! – damit das Kind keinen „Nachteil in der Medienkompetenz“ habe. Übersetzt heißt das nichts anderes als, der Bildungsminister empfiehlt schlechtere Noten, der Gesundheitsminister mehr ungesundes Zuhausehocken, der Kulturstaatsminister die nackte Unkultur in Form von Ballerspielen. Und der Familienminister von NRW empfiehlt Eltern ernstlich Computerspiele wie „World of Warcraft“ oder „Counterstrike“, damit sie besser erkennen, „welche Chancen ihre Kinder später auf Schlüsselpositionen haben“. Tut mir leid, aber in so eine Politik habe ich jedes Vertrauen verloren!

 

Prof. Dr. Manfred Spitzer, der Wissenschaftler und Publizist ist Autor des derzeit heftig umstrittenen Bestsellers „Digitale Demenz. Wie wir unsere Kinder um den Verstand bringen“ (Droemer, 2012) und bekannt durch zahlreiche Interviews und Fernsehauftritte, kaum eine Talkrunde, in der er nicht schon zu Gast war. Spitzer, der im Bayerischen Fernsehen auch die Sendung „Geist und Gehirn“ moderierte, ist Leiter des Psychiatrischen Universitätsklinikums in Ulm und Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie. Zwei Gastprofessuren in Harvard und ein Forschungsaufenthalt am Institute for Cognitive Sciences der Universität Oregon prägten seinen Forschungsschwerpunkt im Grenzbereich der kognitiven Neurowissenschaft und Psychiatrie. 2006 veröffentlichte er „Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gerhirnentwicklung und Gesundheit“ (Klett), das den Einfluß von Bildschirm-Medien aus neurowissenschaftlicher Sicht untersuchte. Geboren wurde er 1958 in Darmstadt.

Foto: Gefangene der digitalen Welt: „Mit digitaler Demenz meine ich geistigen Niedergang durch digitalen Konsum (...) Ein Problem, das überall auf der Welt in digital geprägten Gesellschaften auftritt.“

 

weitere Interview-Partner der JF

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen