© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/13 / 08. Februar 2013

Der Flaneur
Bergtouren mit Kurt
Paul Leonhard

Dichtes Schneetreiben. Ich taste mich vorsichtig über gefrorenes Eis auf Kopfsteinpflaster und die vom Schnee übriggebliebene Schmierseife auf den Granitplatten. Fast wäre ich über die Krücke gestolpert, die mir plötzlich einen halben Meter über dem Boden entgegengestreckt wird. Ich stoppe taumelnd, schaue nach oben und blicke in ein breites Grinsen, das Kurt gehört.

Wochenlang habe ich ihn nicht mehr gesehen, den Oberlausitzer mit dem breit rollenden „R“, bei dem man nicht weiß, ob es sich um einen weitgereisten Amerikaner handelt oder um einen bodenständigen Niederschlesier. Kurt ist letzteres und seit dem Mauerfall im Westen vor allem damit beschäftigt, den Osten, die alte Heimat, zu erkunden. Wenn er von seinen tagelangen Touren durch das Riesen- und Altvatergebirge erzählt, bekomme ich schon vom Zuhören Muskelkater.

„Das hätte er von der heutigen Jugend nicht gedacht, gesteht er. Die seien ja so was von nett.“

Jetzt reckt mir Kurt gleich zwei Krücken entgegen. Das Knie schmerze. Er müsse unters Messer, erzählt er in diesem vertrauten heimatlichen Tonfall, der selbst der schwierigsten Operation etwas Anekdotenhaftes verleiht. Der Doktor wolle ihn erst sehen, wenn er es vor Schmerzen nicht mehr aushalte, flüstert mir Kurt zu. Dann schaut er mir tief in die Augen und verrät, daß das mit dem Kniegelenk auch im 21. Jahrhundert eine heikle Angelegenheit sei und eine kaputte Hüfte dagegen ein Kinderspiel.

Kurt jedenfalls hat sich daraufhin zwei Krücken ausgeliehen und eine Entdeckung gemacht: Die Stöcke entlasten nicht nur sein Knie derart, daß er wieder schmerzfrei schlafen kann. Auch würden in der vollbesetzten Straßen- oder S-Bahn sofort mindestens drei Leute aufstehen und ihm ihren Platz anbieten. Das hätte er von der heutigen Jugend nicht gedacht, gesteht Kurt. Die seien ja so was von nett. Einige würden nach dieser Kollektivmaßnahme sogar miteinander ins Gespräch kommen. Das freut und schmerzt Kurt gleichermaßen, denn speziell einigen der jungen Damen würde er gern von seinen Bergtouren erzählen, statt seufzend aufs Polster zu sinken. Schließlich sei er erst 76 Jahre alt.

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