© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/13 / 08. Februar 2013

Märchenwelten und Gottesdienste
Redakteure und ihre Heimat: Der Hamburger Christian Rudolf über seinen kulturell-geistigen Grund / JF-Serie, Teil 6
Christian Rudolf

Heimat ist nicht nur ein Ort. Heimat ist ein ganzer Kosmos an innerem Leben. Heimat – das ist die Gesamtheit der Erlebnisse, Erfahrungen, Prägungen, die dazu beigetragen haben, daß ich der werden konnte, der ich bin; der kulturell-geistige Grund, auf dem ich stehe. Sie ist vor allem aber die Verbindung mit anderen Menschen, durch die so etwas wie Beheimatung überhaupt erst beginnen und Bestand haben kann. Eltern, Lehrer, Freunde, Liebesbeziehungen – es sind die inneren Seelenregungen, die erst eine zufällige Gegend zu einer Heimat machen.

Beim Nachsinnen darüber, was mir die Heimat ist, erwachen zuerst die Bilder der Kindheit. Es ist der Umkreis des Elternhauses: die Küche, in der ich auf dem Schoß meines Vaters eine Fischbüchse aß; das Etagenbett, in dem ich mir mit Tüchern eine Seeräuberhöhle baute; die Büsche auf dem Wall vor dem Wohnblock, durch deren nur uns Kindern zugängliche Geheimpfade wir geduckt krochen und uns an den Dornen ratschten; der Weg über den Spielplatz zum Bus, wo ich beim Rennen ausrutschte und mir das Knie aufschlug; die Haltestelle einige Stationen von zu Hause weg, an der ich beim Warten auf den Bus – um sechs Uhr war Abendbrot, da sollte ich zurück sein – bei heftigstem Herzklopfen meine erste Freundin an der Hand hielt.

Später öffneten und weiteten Schule und Kirche mit jedem Lebensjahr mehr den Horizont und trugen zur Verortung in der Welt bei. Das liberale, weltoffene Hamburg strahlte Unbekümmertheit und Zuversicht auf mich ab; die Rudolf-Steiner-Schule Wandsbek – die zweite Waldorfschulgründung überhaupt – und die Kirchengemeinde gaben „Butter bei die Fische“ und wiesen mit ihrem je eigenen geistig-religiösen Weg auf Ursprung und Ziel des Menschen in Gott.

Volkslieder und Gedichte als Schatz fürs Leben

Mein Denken und Begreifen entfaltet sich in der deutschen Sprache, ein Zuhause innigster Art: Die Märchenwelten der Gebrüder Grimm und die biblischen Geschichten prägen meinen inneren Vorstellungsraum aus. Meine Lehrerin nennt mich im Zeugnis einen „tüchtigen Grammaticus“.

Deutsche Volkslieder und Gedichte schenkt die Schule in einer Fülle über mich hin, daß ich ein halbes Leben davon zehren kann. Schillers, Fontanes und C. F. Meyers Balladen, später Hölderlin, Droste-Hülshoff, Brecht und Albrecht Haushofer – ohne die sittliche Prägung unserer deutschen Dichtung wäre ich ein anderer. Von Lehrern auswendig vorgetragen in einem gesammelten Ernst, der seinesgleichen sucht. Monatsfeiern glichen von der Stimmung her Gottesdiensten.

„Frohe Botschaft unseres Herrn Jesus Christus!“ Von der Kirche habe ich den Glauben und das Evangelium. Mein Pfarrer (oder „Pastor“, wie man in Hamburg sagt, mit Betonung auf dem O) ähnelte in Gestalt und Wesen, in seiner ausstrahlenden Glaubensstärke wie in seiner offenen Menschenfreundlichkeit dem seinerzeitigen Papst aus Polen. Und Polen gab es zuhauf in der Gemeinde, man hörte manchmal mehr Polnisch als Deutsch. Ihnen wiederum zur Beheimatung hing eine wunderschön gerahmte Schwarze Madonna von Tschenstochau da. Den Kerzenständer davor habe ich nicht anders als lichterhell in Erinnerung.

Man kann eine Messe abhalten oder man kann sie feiern, das hat mit dem jeweiligen Ritus rein gar nichts zu tun. Pastor K. feierte die sonntägliche 10-Uhr-Messe als ein Hochamt nicht bloß dem Namen nach. Und predigte so, daß der Heranwachsende spürte: „Wahrhaftig, dieser war Gottes Sohn!“

„Wo dir, o Mensch, Gottes Sonne zuerst schien“ – ist da deine Liebe, ist da dein Vaterland? Nach der Schulzeit habe ich meiner Heimatstadt, die nicht einmal meine Vaterstadt ist, leichtfüßig ade gesagt und eine zweite Heimat in Potsdam gefunden: „Ubi bene, ibi patria.“ Aber es ist wie bei allem, was man liebt: Man kann sich aus den Augen verlieren. Aber im Herzen bleibt immer etwas.

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