© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/13 / 01. Februar 2013

„Wo man singt, da laß dich ruhig nieder“
Ein Spaziergänger durch das dunkelste Europa: Zum 250. Geburtstag des Schriftstellers Johann Gottfried Seume
Sebastian Hennig

Der Schriftsteller und Dichter Johann Gottfried Seume (1763–1810) gehört zu jenen eigenwilligen Geistern unserer Nationalliteratur, deren Ruhm durch ein Werk begründet wurde und deren sonstige Hervorbringungen und gesamte Persönlichkeit nur zu den Jubiläen Beachtung finden.

Schon der Großvater und Vater des Dichters wollten sich nicht einordnen in die Gegebenheiten eines abhängigen Lebens. Mit den untersten Repräsentanten von weltlicher und geistlicher Obrigkeit gerieten sie in fast gesetzmäßiger Folge aneinander. Als die Begräbnisrede auf den ketzerischen Großvater vom Dorfpfarrer zu einer Strafpredigt mißbraucht wurde, konterte der Vater Andreas Seume: „Er wollte ihre weiten, unersättlichen Ärmel nicht füllen. Das war seine ganze Gottlosigkeit.“

Und auch den berühmtesten Abkömmling dieser Querulanten drängte es aus gesicherten Verhältnissen immer wieder zur Tat. Nach eigenem Bekunden bot ihm seine Zeit keine Gelegenheit zum „ehrenvollen Handeln“. Niemals hätte er sich eingelassen, ein Literat zu werden, wenn nicht „der böse Dämon unseres Jahrhunderts (…) für einen rechtschaffenen und wahrheitsliebenden Mann keinen Trost außer den Wissenschaften“ gelassen hätte.

Aber das Studium der Gottesgelehrtheit tröstete ihn nur so ungenügend, daß er 1781 ein knappes Bündel schnürte und der Leipziger Universität den Rücken kehrte. Als er auf der Wanderschaft den hessischen Soldatenwerbern in die Hände fiel, war er zu Taten gezwungen, die er niemals tun wollte: Mit Tausenden anderen Unfreiwilligen verkaufte ihn der Landgraf von Hessen-Kassel an die Engländer, die mit diesen deutschen Truppen ihre Interessen im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg durchsetzen wollten.

Und wieder treibt ihn die unrühmliche Gegenwart der andauernden Kraft der Dichtung in die Arme. Ausgaben der Chronisten und Poeten der Antike aus der Bibliothek des Kapitäns begleiten ihn zu einsamen Lektürestunden in den Mastkorb des Schiffes. Seume gedachte bei der ersten Gelegenheit zu den Republikanern überzugehen. Als sie nach zweiundzwanzig Wochen in Halifax landeten, kam es zu keinem Waffengang mehr. Der Feldzug war entschieden. Seine Lebensbeschreibung ist immer noch, neben den Berichten des Simplicissimus, Ulrich Bräkers („Der arme Mann aus dem Toggenburg“) und des Magisters Laukhard („Leben und Schicksale von ihm selbst beschrieben“) eines der lesbarsten und kurzweiligsten Bücher über dergleichen unfreiwillige Irrfahrten.

Nach Europa zurückgekehrt, gerät er erst in preußische und darauf in russische Dienste. Seit Ende der 1790er-Jahre betätigt er sich als Korrektor im Verlag Georg Joachim Göschens in Grimma. Nachdem die große Klopstock-Ausgabe, das typographische Meisterwerk aus Göschens Presse, abgeschlossen ist, tritt er Ende 1801 eine Fußreise nach Italien an. Jener „Spaziergang nach Syracus“ sichert ihm seinen Nachruhm bis auf unsere Tage. Das Europa, welches Seume durchwandert, ist zerissen und bewegt durch die Unternehmungen Bonapartes. Als Oberbefehlshaber der französischen Truppen in Italien begründet Napoleon 1795 seinen Feldherrenruhm.

Nach erneuter Literatentätigkeit und vergeblichem Liebeswerben bricht Seume bereits 1805 zur nächsten Reise auf. Der Ruhm seines „Spaziergangs“ eilt ihm voraus auf dem Weg durch Polen nach Moskau und über Finnland, Schweden und Dänemark zurück nach Leipzig. Eine Offiziersstelle im russischen Heer lehnt er ebenso ab wie eine Professur in Dorpat.

Auf dem Rückweg begegnet er allenthalben den Spuren der napoleonischen Züge durch Deutschland. Zwei preußischen Offizieren sagt er im September die vollständige Unterwerfung der deutschen Länder durch Napoleon voraus. Das heimatliche Sachsen spielt dabei eine besonders schmachvolle Rolle. Im Frieden von Posen erhielt der Kurfürst für die Öffnung der Elbübergänge die Königskrone von Napoleons Gnaden. Seume: „Meine Zeit fiel in die Schande meines Volks. Alles, was ich Empörendes und Erniedrigendes sehe, halte ich für die Folge der Privilegien.“ Er sieht seine unbefangenen Äußerungen durch die politische Zensur beschränkt.

Seumes Patriotismus verfügt über den Erfahrungshintergrund eines Weitgereisten, der aufgrund seiner maßvollen Fortbewegungsart genau beobachten kann. Das Gehen, befindet er, sei das „Selbständigste am Manne“. Eine Fahrt im Wagen scheide ihn sogleich um „einige Grade von der ursprünglichen Humanität“.

Wie entschieden und zugleich wie wenig doktrinär sein Patriotismus war, zeigen Verse aus dem Gedicht „An das deutsche Volk im Jahre 1810“: „Eine fremde Sprache zügelt uns./ Fremde Schergen treiben unsre Jugend/ Und mit tiefer, stummer Eselstugend/ Fördert’s links und rechts der edle Duns.“

Vom Widerstand und der Einigung der Deutschen erlebt Seume nur noch die vereinzelten Anfangszeichen. Wohl als Folge der rücksichtslosen Ausbeutung des eigenen Körpers suchten ihn 1808 Gicht und Schwindsucht heim. In Erwartung der dringend benötigten Pension erliegt er am 13. Juni 1810 den Erschöpfungen seines bewegten Wandererlebens während eines Kuraufenthaltes im böhmischen Teplitz, wo heute noch an zentraler Stelle ein einfacher Gedenkstein seinen Namen überliefert.

Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, kartoniert, 416 Seiten, 11,90 Euro

Foto: Auf dem Spaziergang nach Syrakus: Johann Gottfried Seume wanderte 1802 zu Fuß nach Sizilien. Sein Buch über diese Reise beschert ihm bis heute Nachruhm (Holzstich: Die Gartenlaube, Nr. 4, Berlin 1863)

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