© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/13 / 01. Februar 2013

Ausweichen in die Ästhetik
Gelassener Gärtnerkonservatismus: Ernst Jüngers „zivile Jahre“ im postnationalen Deutschland
Dirk Bäcker

Ernst Jünger, so lautet die These einer Gruppe von Germanisten, die sich im März 2010 in Konstanz zu einer Tagung über den Jahrhundertschriftsteller trafen, werde in einer mächtig anschwellenden Literatur primär als Autor im Zeitalter des Weltbürgerkrieges wahrgenommen, als Verfasser der „Stahlgewitter“, als nationalrevolutionärer Aktivist, innerer Emigrant im Dritten Reich und „kalter“ Diarist während der Pariser Besatzungszeit.

Daß Jünger danach, bis zu seinem Tod im Februar 1998 ungebrochen produktiv, stolze 53 Jahre im „Lizenzstaat“ (Carl Schmitt) Bonner wie Berliner Zuschnitts als Essayist und Romancier präsent war, werde von der so eifrigen Forschung nach Ansicht der Konstanzer Referenten indes notorisch unterschätzt. Zum Beleg, so klagen einleitend Matthias Schöning (Konstanz) und Ingo Stöckmann (Bonn) in dem von ihnen edierten Tagungsband, müsse man nur die umfangreichsten jüngeren Biographien von Helmuth Kiesel (2007) und Heimo Schwilk (2007) zur Hand nehmen, um festzustellen, wie die Fixierung auf den „umstrittenen Krieger-Autor“ weiterhin dessen lange zweite Lebensphase in den Schatten stelle.

Diese Asymmetrie wollten die Konstanzer Referenten, in dem sie Jüngers angeblich dunkle „zivile Jahre“ auf den drei Feldern Ästhetik, Politik und Zeitgeschichte untersuchten, heller ausleuchten. Aber eine solch steile, vermutlich den Zwängen der Drittmitteleinwerbung geschuldete These vom ach so unbekannten Jünger, der die überwiegend um 1970 geborenen Nachwuchsgermanisten hier huldigen, ist insoweit zu relativieren, wie mit Daniel Morats Göttinger Dissertation über das konservative Denken bei Martin Heidegger und den Brüdern Jünger („Von der Tat zur Gelassenheit“, 2007) schon reichlich Licht in Ernst Jüngers oberschwäbische Abgeschiedenheit gefallen ist.

Und erst kürzlich machte uns Jan Robert Webers Analyse der zwischen 1934 und 1960 entstandenen Reisetagebücher mit dem „Anarchen“ als Flüchtling aus Adenauers Wirtschaftswunderrepublik in vormodern-mediterrane Entschleunigungszonen bekannt (JF 42/11). Ist dank Morat, Weber und, ungeachtet aller dagegen aufzutürmenden Einwände, auch dank Elliot Y. Neaman („A Dubious Past. Ernst Jünger and the Politics of Literature after Nazism“, 1999, JF 6/01) also nicht von einem wirklich schmerzlichen Desiderat auszugehen, so bleibt doch, auch angesichts ungehobener Marbacher Nachlaß-Schätze, die bundesdeutsche Schriftstellerexistenz Jüngers immerhin ein höchst reizvolles Thema.

Wenn man dabei das Verhältnis Jüngers zu „Politik und Zeitgeschichte“ allerdings so dezidiert in den Mittelpunkt rückt, dann erwartet der Leser dazu Substantielles. Stattdessen bestätigen sämtliche Beiträge, daß Germanisten, wie sonst nur Philosophen oder Soziologen, eine unglückliche Liebe zur Geschichte pflegen. Ein Defekt, der exemplarisch in jener Textsequenz Schönings zu fassen ist, wo vom „RSAH“ statt RSHA (Reichssicherheitshauptamt), von Ernst „von“ statt „vom“ Rath, der im November 1938 nicht als „NSDAP-Mitglied“, sondern als deutscher Diplomat Opfer eines jüdischen Mörders wurde, sowie von Henning von Tresckow als dem „hartnäckigsten Hitlerattentäter“ die Rede ist, als hätte Stauffenbergs Freund, einem Buster Keaton gleich, mehrfach eigenhändig versucht, seinen obersten Kriegsherrn ins Jenseits zu befördern.

Unangenehm häufig geistern solche zeithistorischen Phantasmen durch die Interpretationen. Umso verwunderlicher – und anerkennenswerter – ist es dann, wenn alle ahistorisch konditionierten Beiträger trotzdem brav der Versuchung widerstehen, in jene billige „Ideologiekritik“ abzugleiten, die zuletzt in kompakter Peinlichkeit in Horst Seferens’ Suada über Jünger und die deutsche Rechte nach 1945 (Bodenheim 1998) anzutreffen war. Dort sedimentierten sich die bis heute Pfründern des Zeitgeistes unentbehrlichen Plattheiten, die, wie Lothar Bluhm (Koblenz-Landau) in seiner Analyse des permanenten „Streits um Jünger“ erinnert, bereits im August 1982, anläßlich der Goethe-Preis-Verleihung, auf den „Antidemokraten und durch und durch amoralischen Menschen“ herabregneten.

Neben Morats Studie zu Jüngers Essayistik in den fünfziger Jahren („Die Entpolitisierung des Politischen“), die freilich nur Bekanntes aus seiner Dissertation repetiert, ist Bluhms Arbeit zur Jünger-Rezeption leider der einzige Versuch, politisch-zeithistorische Werkkonstellationen zu konkretisieren. Ansonsten ist das Ausweichen vor der Historie in die Ästhetik die Regel. Mitunter gelingen dabei zwar Beobachtungen, die ausbaufähig sind. Etwa wenn Schöning das Provisorium Grundgesetz und die „gewollte Vagheit“ der Nachkriegstexte Jüngers parallelisiert, um in dieser „post-militanten“ Schaffensphase mit der „Poetik des Interims“ eine „extreme Passung mit dem Diskurs der frühen Bundesrepublik“ zu erkennen. Doch da kaum expliziert, ist dieser Einfall nur eine Variante zu Morats These, Jünger sei nach 1945 auf dem 1933 eingeschlagenen Pfad von der nationalrevolutionären Tat zur apolitischen, metahistorischen „Gelassenheit“ eines zahnlosen „Gärtnerkonservatismus“ (Armin Mohler) konsequent weiter vorangeschritten.

Neben Originalität mangelt es vielfach an gedanklicher Klarheit. Davon zeugen etliche pseudowissenschaftliche Schwurbeleien, die im schauerlichen Deutsch sinnfreie Aussagen formulieren: „Wie Jüngers Essay ‘Der Waldgang’, so betreiben auch die erzählten Welten eine gesellschaftsinterne Exterritorialität im Modus einer referentiellen oder referentialisierungsoffenen Fiktionalität, deren fiktive raum-zeitliche Entferntheit eine Imagination entfesselt, die das Reale in verdichteter, vom Akzidentiellen entschlackter Form vor Augen stellt“ (Schöning/Stockmann).

Um über Morat und seine ihm in dieser Aufsatzsammlung nachbetenden, den „metapolitischen“ Ernst Jünger exponierenden Sekundanten hinauszugelangen, wäre einmal zu fragen, warum denn der „Weise von Wilflingen“ als Zeitdiagnostiker gerade nach 1968 an Zuspruch gewann? Warum die Verkaufszahlen seiner Bücher anzogen, warum der internationale Ruhm sich stetig ausbreitete? Und warum selbst dezidiert Anti-Konservative wie Bundeskanzler Helmut Kohl von der Aura eines Mannes zu profitieren hofften, dem die Herausgeber hier ein „dauerhaft ausbleibendes Bekenntnis zur Demokratie“ und ein zunehmendes schriftstellerisches „Verfehlen der Realitäten“ ankreiden.

Um von diesen Fragen geleitet, Jüngers vermeintlich zeitenthobene Gegenwelten im Kontrast zur bleiernen Zeit gerade der späten Bonner wie zur intellektuellen Tristesse der Berliner Republik zu entdecken, müßte indes der penetrant apologetische Standpunkt verlassen werden, den eine vorzeitig saturierte, mit Deutschland in allen postnationalen Erscheinungsformen rundum ausgesöhnte Riege von „Junior-Professoren“ in diesem Band bezogen hat.

 

Ernst Jüngers „Letzte Worte“

Die ungebrochene Beschäftigung mit Ernst Jünger (1895–1998) und seinem Werk äußert sich in alljährlichen Neuerscheinungen. So hat der Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, für Mitte März einen Band mit von Jünger zeitlebens gesammelten „Letzten Worten“ angekündigt (ca. 176 Seiten, 19,95 Euro). Herausgeber ist der Literaturkritiker und Buchautor Jörg Magenau, der voriges Jahr die vielbeachtete Doppelbiographie „Brüder unterm Sternenzelt“ über Friedrich Georg und Ernst Jünger veröffentlicht hat (JF 42/12).

Matthias Schöning/Ingo Stöckmann (Hrsg.): Ernst Jünger und die Bundesrepublik. Ästhetik–Politik–Zeitgeschichte, Walter de Gruyter Verlag, Berlin 2011, gebunden, 338 Seiten, 99,95 Euro

Foto: Ernst Jünger bei seiner Dankrede zur Verleihung des Goethe-Preises in der Frankfurter Paulskirche am 28. August 1982: Um die Auszeichnung entbrannte eine große Kontroverse in Politik und Medien

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