© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/13 / 01. Februar 2013

Die Betreuungsblase
Familienpolitik: Müssen wirklich mit Milliardensummen neue Krippenplätze geschaffen werden, damit die Deutschen mehr Kinder bekommen?
Friederike Hoffmann-Klein

Fehlende Betreuungsplätze und eine nach wie vor mangelnde gesellschaftliche Anerkennung für berufstätige Mütter gelten als wesentlicher Grund für ein kontinuierlich niedriges Geburtenniveau in Deutschland. Fast schon stereotyp erhebt sich die Forderung nach einem weiteren Ausbau der Kitaplätze.

Noch 150.000 bis 220.000 Kitaplätze fehlen angeblich in Deutschland nach statistischen Berechnungen, obwohl bereits 558.000 Kinder unter drei Jahren (Stand: März 2012) in einer Krippe oder bei Tagesmüttern betreut werden (siehe Grafik). Hier stellt sich die Frage, ob damit auch ein tatsächlicher Bedarf abgebildet wird. Angesichts der Tatsache, daß „nur“ 60 Prozent der Mütter erwerbstätig sind und die meisten dabei „Teilzeit“ vorziehen, darf dies bezweifelt werden.

Die Zahl fehlender Plätze ergibt sich zunächst einmal nur aufgrund des ab 1. August 2013 gültigen Rechtsanspruchs auf Betreuung. Sprich: Jedes Kind soll einen Platz bekommen können, egal ob die Eltern ihn tatsächlich wollen oder nicht. Immer wieder ist zu hören, daß gerade in (westdeutschen) Großstädten die Nachfrage nach Betreuungseinrichtungen das Angebot weit übersteigt. Doch wie viele Eltern haben tatsächlich keinen Betreuungsplatz für ihr Kind bekommen, obwohl sie einen benötigten? „Eine solche Statistik liegt uns nicht vor“, antwortet die Pressesprecherin des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Charlotte Cary von Jagow, auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT.

Gleiche Karrierechancen für Frauen und Männer und eine gleichberechtigte Teilhabe am Erwerbsleben fordert das Ministerium. Tatsächlich ist es für keine Frau leicht, sich dieser gesellschaftlichen Erwartungshaltung ganz zu entziehen. Wer als Mutter auf der Höhe der Zeit sein will, ist quasi gezwungen, in irgendeiner Weise auch beruflich aktiv zu bleiben. Um die Diskussion über nichtvorhandene Betreuungsplätze von allem ideologischen Ballast zu befreien und eine wirklichkeitsnähere Sichtweise zuzulassen, wäre eine Änderung der Perspektive hilfreich.

Kinder kosten Zeit, und wer Kinder hat, möchte diese Zeit bei seiner Lebensplanung zur Verfügung haben. Damit gehen, in der Regel, berufliche Abstriche für einen Elternteil einher. Diese sind also nicht unbedingt Ausdruck einer immer noch vorhandenen Diskriminierung von Frauen und fehlender Gleichberechtigung. Die Frage der Politikwissenschaftlerin und ehemaligen Beraterin im amerikanischen Außenministerium, Anne-Marie Slaughter, in ihrem Artikel „Why women still can’t have it all“ wäre dann vielleicht als schlichte Aussage umzuformulieren – tatsächlich, alles zugleich ist nicht oder nur schwer möglich. Ist dies für Frauen wirklich unzumutbar? Oder nur ein Anwendungsfall des englischen Sprichworts „You can’t have your cake and eat it“?

Die Aussage, „Männer schaffen beides, Kinder und Karriere, Frauen nicht“ erscheint so in einem anderen Licht. Nicht deshalb, weil sie Frauen sind, sondern weil sie vielleicht die Kinderbetreuung nicht ganz aus der Hand geben wollen. Dies nur als Manko zu sehen, ist deshalb zu einseitig. Denn es läßt außer acht, daß diese Entscheidung auch gewollt sein kann.

Eine durch die Sichtweisen früherer Generationen geprägte Mentalität sei das entscheidende Hindernis für eine immer noch nicht verwirklichte Vereinbarkeit von Familie und Beruf, schreibt auch Karen Krüger (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung). Eine Mentalität, die den Veränderungen der Gegenwart hinterherhinkt. Überholte Anforderungen an die Mutterschaft, die nicht mehr in unsere Zeit passen. Mütter, denen immer noch ein schlechtes Gewissen gemacht wird, wenn sie Karriere machen, wie kürzlich eine WDR-Journalistin behauptete. Legt man diese Sichtweise zugrunde, ist ein noch nicht ausreichend ausgebautes und qualifiziertes System der Kinderbetreuung wirklich die Ursache dafür, daß es zu wenigen Frauen gelingt, ihren Kinderwunsch zu verwirklichen, weil sie eben abwarten, bis sich die Bedingungen einstellen.

Zu fordern, nur unsere Einstellung zur Mutterschaft müsse sich ändern, greift aber schon deshalb zu kurz, weil es hier nicht allein um unsere, der jeweiligen Zeit unterworfenen Vorlieben und Einschätzungen geht, sondern auch um die Entfaltungsbedingungen, die kleine Kinder brauchen, um sich optimal entwickeln zu können.

Fachleute werden nicht müde, auf die Bedeutung hinzuweisen, die der Beziehung des Kindes zu seiner Hauptbezugsperson zukommt. Ein wesentlicher Faktor der Qualität – aller Beschwörung von „quality time“ zum Trotz – ist dabei auch die Zeit. Das allein wäre Grund genug, einen immer weiter forcierten Krippenausbau, der bis zu diesem Jahr rund 3,8 Milliarden Euro Investitionskosten und ab diesem Jahr zusätzliche Betriebsausgaben in Höhe von jährlich etwa 2,3 Milliarden Euro verursacht, in Frage zu stellen. Gibt es eine Alternative?

„De l’eau“, ruft das anderthalb Jahre alte Mädchens beim Anblick eines Brunnens. Die kleine Laura aus Straßburg wächst deutschsprachig auf, aber sie hat eine französische Kinderfrau, die sich jeden Nachmittag um sie kümmert, während ihre Mama arbeiten geht. Kein Einzelfall in Frankreich, sondern ein beliebtes Betreuungsmodell, das sich dort keineswegs nur die reichen Familien leisten können, wird es doch vom französischen Staat erheblich gefördert.

So gerne in der Debatte um fehlende Betreuungsplätze immer auf Frankreich verwiesen wird, kommt dieses Thema in der Diskussion nicht vor, ebensowenig wie die Tatsache, daß dort eine Betreuung durch Tagesmütter, nicht durch Krippen, das am meisten gewünschte Modell ist. Doch der deutsche Gesetzgeber hat 2009 mit der Neuregelung der Sozialversicherungspflicht die Tätigkeit von Tagesmüttern nicht attraktiver, sondern im Gegenteil finanziell weniger lohnend gemacht.

Die Hypothese, nur wenn Frauen hinsichtlich ihrer beruflichen Entfaltung den Männern gleich sind, können sie überhaupt daran denken, Kinder zu bekommen, führt zwangsläufig zu der Forderung nach umfänglicher und umfassender Kinderbetreuung. Aber macht wirklich jede Frau dies zur Bedingung ihres Kinderwunsches? Gibt es nicht auch Frauen, die gelassen akzeptieren können, daß berufliche Pausen eine lebenspraktische Notwendigkeit sind.

Nicht einfach nur „ungleiche Chancen“ sind verantwortlich, wenn Frauen zugunsten der Familie teilweise auf Erwerbstätigkeit verzichten, sondern persönliche Entscheidungen, die es zu respektieren gilt. Ein Blick auf die östlichen Bundesländer, in denen das Betreuungsangebot groß ist, zeigt, daß die Verwirklichung des Kinderwunsches sicher nicht in strikter Abhängigkeit von der Möglichkeit der Kinderbetreuung zu sehen ist.

In die gleiche Richtung deutet auch eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), wonach viele Deutsche gar keine Kinder mehr wollen (siehe Grafik). Andere Ziele wie Karriere oder Hobbys haben einen höheren Stellenwert. Kinder gelten nicht mehr als Wert an sich, dem die eigene Lebensplanung unbedingt Raum geben muß. Selbst wenn Kinder erwünscht wären, hält manche Frau die Befürchtung, neben ihrem Beruf nicht genug Zeit für ein Kind zu haben, von der Umsetzung ihres Kinderwunsches ab. Kleine Kinder zu haben, ist sehr anstrengend. Wird die gesellschaftliche Erwartungshaltung zu groß, die Karriere an die erste Stelle zu setzen, wird eine Frau sich gut überlegen, ob sie ein Kind bekommt, geschweige denn mehrere.

Indem Frauen, wenn sie Mütter sind, neue Prioritäten setzen, sind sie nicht rückständig und weniger emanzipiert. Vielmehr liegt hier eine in hohem Maße realitätsbezogene Einstellung zugrunde. Kinder brauchen Zeit und Zuwendung, gerade auch der Eltern. Allein ein fehlendes oder noch nicht ausreichendes Betreuungsangebot als Ursache für verbreitete Kinderlosigkeit zu benennen, ist deshalb zu theoretisch und zu einfach gedacht. Diese Aussage wäre nur unter der Voraussetzung richtig, daß, erstens, jede Frau, die sich überlegt, Kinder zu bekommen, den Wunsch hat, ohne Unterbrechung oder Einschränkung in ihrem Beruf zu bleiben. Zweitens wäre davon auszugehen, daß in jedem Fall auch ein Kinderwunsch besteht. Drittens trifft die Annahme, ausreichende Betreuungsplätze allein seien in der Lage, das Problem der nicht ausreichenden beruflichen Teilhabe von Frauen zu lösen, nicht zu. Es bleibt eine Doppelbelastung, die manche Frau nicht auf sich nehmen will.

 

Betreuungsquote

Durchschnittlich 27,6 Prozent der unter Dreijährigen waren im Jahr 2012 in einer Kindertagesstätte oder bei einer Tagesmutter untergebracht. 2006 waren es noch 13,5 Prozent. Allerdings bestehen hinsichtlich der Quote große Unterschiede zwischen westlichen (grau) und östlichen (rot) Flächenländern sowie den Stadtstaaten (blau). Ab August 2013 hat jedes Kind einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. Daraus ergeben sich (theoretisch) 150.000 bis 220.000 fehlende Plätze.

Die Gesamtkosten für den Ausbau der Kinderbetreuung belaufen sich nach Ministeriumsangaben auf rund 12 Milliarden Euro.

 

Lust auf Kinder?

Je mehr Betreuungsplätze, desto mehr Kinder? Diese Gleichung geht nicht auf, sonst hätte beispielsweise der Landkreis Cloppenburg (Niedersachsen) bei einer eher niedrigen Betreuungsquote (14,1 Prozent) nicht die relativ hohe Geburtenziffer von 1,7 Kindern pro Frau (deutscher Durchschnitt: 1,36 Kinder).

Aus einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung vom Dezember 2012 geht hervor, daß eher die Einstellung zum „Wert Kinderhaben“ ursächlich ist. Und dessen Bedeutung rangiert hinter den Werten Beruf, Partner- beziehungsweise Freundschaften sowie Hobbys.

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