© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/13 / 25. Januar 2013

„Für deutsches Land das deutsche Schwert“
Würdiges Jubiläum: Christine Mielitz’ dreißig Jahre alte „Lohengrin“-Inszenierung an der Semperoper
Sebastian Hennig

Dresden ist doch am Ende der einzige Ort, wo ich sozusagen zu Hause bin, überall sonst in der Fremde“, schreibt Richard Wagner 1858 aus Venedig an seine in der Elbmetropole zurückgebliebene Frau. Ganz lokalpatriotisch auf die Dresdner Schaffenszeit richten sich die Wagner-Ehrungen dieses Jahres daselbst. Als Geburtstagskonzert wird die Staatskapelle unter Christian Thielemann in der Frauenkirche unter anderem mit einer Heerschar von Chorsängern die biblische Szene „Das Liebesmahl der Apostel“ zum Erklingen bingen. Unlängst eröffnete ein neues Wagner-Museum im Jagdschloß Graupa. In diesem Ort am Übergang in die Sächsische Schweiz verbrachten die Wagners 1846 zwei glückliche Monate.

Die Kompositionsskizze zur romantischen Oper „Lohengrin“ kam hier zum Abschluß. Als Wagner 1848 die Partitur fertig hatte, war seine Lage in Dresden bedenklich. Die Teilnahme am demokratischen Vaterlandsverein und die Publikation des Aufsatzes „Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtum gegenüber“ stellten ihn ins Abseits. Ein eigenhändiger Rechtfertigungsbrief an die königliche Majestät bewirkte nichts. Intendant Lüttichau wies nicht nur „Lohengrin“ zurück, er nahm auch „Rienzi“ und „Tannhäuser“ vom Spielplan und drohte dem Unbotmäßigen mit Entlassung.

Der Aufstand vom Mai 1849 war eine befreiende Katastrophe. Franz Liszt dirigierte im August 1850 die Uraufführung in Weimar zum 101. Geburtstag von Goethe. Großherzogin Maria Pawlowna unterstützte großzügig mit Geld, und erst durch diese Aufführung wurde Wagner zu einer Persönlichkeit von europäischer Geltung.

Ihre erste Regiearbeit als neue Oberspielleiterin an der Dresdner Staatsoper war für die junge Christine Mielitz im Jahr 1983 „Lohengrin“. Damals hatte sich das Musiktheater noch mit der Bühne des Schauspielhauses zu begnügen. Als zwei Jahre darauf die Semperoper eröffnete, wurde die Inszenierung auch für das neue alte Haus übernommen.

Zum Antritt von Christian Thielemann als Wagner-Dirigent in Dresden ging jetzt im Januar die 109. bis 111. Vorstellung über die Bühne. Daß die Regisseurin eine Wiederaufnahme betreut, ist ungewöhnlich. Doch hatte sie nicht allein die angemessene Berücksichtigung ihrer Anweisungen zu überwachen. Der Kapellmeister wünschte die Öffnung von Streichungen, vornehmlich im 2. Akt. Dafür mußte Handlung nachinszeniert werden.

Streichungen im Lohengrin haben eine lange Vorgeschichte. Wagner selbst hat Liszt zur Uraufführung geraten, den zweiten Teil der Gralserzählung, den heute kaum einer überhaupt noch kennt, zugunsten der Wirkungskraft des Vorangegangenen auszulassen. In einer Aufnahme von Wilhelm Furtwängler aus den dreißiger Jahren singt Franz Völker davon, wie ihn die Kunde von Elsas Not aus der Ferne herbeiführte.

Anders ist es mit der Schlußszene. Der fremde Ritter verläßt nicht nur seine Braut, sondern ein Volk in Not, das schwer bewaffnet einem andrängenden Feind standhält. Das ereignete sich in den letzten Jahrzehnten äußerst selten auf den Bühnen. Von dem Punkt, als Elsa zusammenbricht, bis zum Eintreffen des Schwans wurde gestrichen. Von dieser Ausgangslage her wagte die Regisseurin 1983 in Dresden Ungewöhnliches. Auf Nachfrage der JUNGEN FREIHEIT teilte sie mit: „Zur Premiere hatten wir (sehr unüblich) einen Strich im 3. Akt geöffnet. Dies fand mehrere Vorstellungen so statt, bis der Sänger des Lohengrin krank wurde. Der dann einspringende Gast kannte diese Stellen aus dem ‘Lohengrin’ nicht. Daraufhin haben wir vor zirka 25 Jahren entschieden, die an allen Theatern übliche Strichfassung zu spielen.“

Inzwischen ist etwas Bewegung entstanden. Zu den Tiroler Festspielen in Erl wurde im vergangenen Jahr „Lohengrin“ vollständig gegeben. Und auch in Dresden darf der Sänger des König Heinrich künden: „Nun soll des Reiches Feind sich nahn, wir wollen tapfer ihn empfahn: Aus seinem öden Ost daher soll er sich nimmer wagen mehr! Für deutsches Land das deutsche Schwert! So sei des Reiches Kraft bewährt!“

Der Baß Kwangchul Youn stammt soweit östlich her, daß ihn die europäischen Petitessen kaltlassen. Er gab einen souveränen König. Kein Akzent trübte seine Artikulation. Ebenso beim Lohengrin Robert Dean Smith. Eine im ersten Akt kettenklirrende Soile Isokoski gab eine Elsa als kräftiges Mädchen mit sentimentalem Phlegma. Für die indisponierte Jane Henschel sprang Evelyn Herlitzius ein. Besonders letztere stattete die Ortrud mit dämonischer Gewalt aus. Man hätte wotansgläubig werden können von dieser Beschwörung der alten Götter durch „Radbods letzten Sproß“.

So gestaltete sich vor allem die letzte der drei Vorstellungen am vergangenen Sonntag, genau dreißig Jahre nach der Premiere, zu einem würdigen Jubiläum. Die Inszenierung bedient sich des retrograden Kostüms des wilhelminischen Kaiserreichs: bodenlange Kleider und betreßte Röcke, weite Umhänge. Dem spätromantischen Impetus wohnt eine verzweifelte Würde inne, die sich ohne Brechung auf der Bühne entfalten darf.

Christian Thielemann vollstreckt nicht bloß Partitur. Er läßt mit der Musik die Zeit sich zum Raum wölben. Wunderbar kommt die feierliche Symmetrie und ferne Tiefe der Bühne dem entgegen. Der Mann mit dem Stab gleicht einem Knaben, der seinen Kreisel peitscht und ihn nicht nur beschleunigen und springen lassen kann, sondern auch drosseln und sogar anhalten, ohne daß der dabei auf die Seite kippt. So in der atemlosen Pause, da Lohengrin im Schlafgemach den Eindringling erschlägt.

 

Kürzung im „Lohengrin“

Kürzungen im„Lohengrin“ sind unzweifelhaft Willkür und haben Methode. In welchem Umfang und mit welchen Motiven hier die Entstellung eines Werkes bereits zur unseligen Aufführungsroutine geworden ist und welche Vorgeschichte in der Rezeption des Werkes seit 1870/71 dieser Ausweichtaktik zugrunde liegt, ist eine gesonderte Untersuchung wert, die in einer der nächsten JF-Ausgaben nachgereicht wird. (sh)

Foto: Soile Isokoski (Elsa von Brabant) und Robert Dean Smith (Lohengrin): Verzweifelte Würde