© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/13 / 25. Januar 2013

Pankraz,
Mark Twain und die gereinigten Bücher

Was ist schlimmer, verboten werden oder verfälscht werden? Mark Twain (1835–1910), weltberühmter Verfasser der Romane „Tom Sawyer“ und „Huckleberry Finn“, bevorzugte das letztere. Als nach Ersterscheinen von „Tom & Huck“ viele mächtige Bedenkenträger und Oberaufseher in den USA den „unanständigen und jargonbehafteten Stil“ dieser Bücher beanstandeten und Verleger daraufhin die Textur eigenmächtig änderten, nahm der Autor das hin – und genoß den Verkaufserfolg der „gereinigten“ Fassung.

Heute sind an die Stelle der Anstandswauwaus die Aufpasser der Political Correctness getreten, welche Mark Twain des Rassismus (und auch des Antifeminismus) bezichtigen, weil er beispielsweise einen „Nigger Jim“ auftreten läßt. Tom & Huck sind bereits aus vielen Schulbibliotheken verbannt oder wurden dort auf den Index gesetzt, so daß die Schüler beim „adviser“ extra eine Lesegenehmigung einholen müssen. Ob Mark Twain das hinnähme? Oder würde er gar höchstselbst nach à la mode „gereinigten“ Fassungen rufen, um weitere Verkaufserfolge zu ermöglichen?

Pankraz kann sich dergleichen eigentlich nicht vorstellen. Mark Twain war ein echter Könner, und solchen Leuten geht es niemals allein ums Geld, sie wissen, daß gute Literatur kein Waschmittel ist, das sich durch allerlei Duftzusätze beliebig von Saison zu Saison verändern und den wechselnden Moden unterwerfen läßt. Und sie wissen auch, daß erste, angeblich kleine und eher beiläufige Eingriffe sich in der Regel immer, wenn man ihnen nicht rechtzeitig Paroli bietet, zu flächendeckenden Totalverfalschungen ausweiten, die den originalen Autor am Ende als willfährigen Wortverdreher dastehen lassen.

Die gegenwärtige Affäre um die politisch korrekte Reinigung berühmter Kinderbücher liefert dafür das Exempel. Anfänglich ging es „nur“ darum, etwa aus Otfried Preußlers „Kleiner Hexe“ die Fastnachtsszene zu streichen, weil sich dort Kinder als „Negerlein“ oder „Eskimofrauen“ (korrekt wäre gewesen: Inuitfrauen) verkleiden. Und bei „Pippi Langstrumpf“ wurde der „Negerkönig“ in „Südseekönig“ umbenannt. Aber schon hat ein verlegerischer Obergutmensch verlautbart, es gehe keineswegs nur um Eskimo und Negerlein, sondern „die Bücher müssen dem sprachlichen und politischen Wandel angepaßt werden, damit sie zeitlos bleiben können“.

Literaturfreunde fassen sich an den Kopf. Bisher galt, daß Kunstwerke „zeitlos“ bleiben, also auch noch die Nachkommen erfreuen respektive mit Ehrfurcht erfüllen, indem sie ihre eigene Zeit derart genau und erinnerungskräftig abspiegeln, daß die Begegnung mit ihnen ein wahrer Schock ist und über die jeweilige Gegenwart weit hinausträgt. Genau diese originäre Sprachgewalt wollen ihnen die herrschenden PC-Wächter jetzt rauben. Große Literatur soll immer wieder dem sprachlichen (und vor allem dem politischen) Wandel „angepaßt“ werden. Und wer anpaßt, das sind natürlich die PC-Wächter selbst.

Unverschämter hat sich ein regierender Zeitgeist wohl noch nie zur Geltung gebracht. Nicht einmal die Bolschewiken nach 1917 agierten auf diesem Niveau. Sie verboten und sekretierten, aber berühmte, die Geschichte prägende und die Herzen vieler Generationen bewegende Texte „anzupassen“ – das haben sie nicht gewagt. Vielleicht fiel es ihnen nicht einmal ein, weil sie ja immerhin an große Texte glaubten. Man muß schon ein völlig geistvergessenes Bierausschenker-Gemüt haben, um auf so etwas allen Ernstes zu kommen.

Aber sie haben eben die Macht, und die neuen elektronischen Medien stehen ihnen leider bei. Das Aufkommen des E-Books weicht den Schutzmantel guter Literatur vor unwillkommenen Anpassungsgelüsten des Zeitgeits bereits jetzt bedrohlich auf. Individueller Formwille, persönliche Anmut, Stil und geistiger Anspruch – alles wird zur Disposition gestellt und dem momentanen Änderungswillen unzuständiger Anpassungsstrategen ausgeliefert. Im Hinlick darauf ist der in den letzten Tagen und Wochen vernehmbare Zorn über die publik gewordenen offiziellen und offiziösen Eingriffe in berühmte Texte fast eine Sensation.

Eine große Mehrheit der hiesigen Geistesarbeiter lehnt die Eingriffe entschieden ab. Offenbar um die Blamage der Anpasser etwas zu minimieren, hat Burkhard Müller in der Süddeutschen Zeitung geschrieben, daß es sich bei deren Zielobjekten doch nur um Kinderbücher handle. Lindgren und Preußler – „die beiden sind, mit Verlaub, dann doch nicht Goethe“. Sich gegen die „Anpassung“ ihrer Texte zu wehren, sei im Grunde nichts weiter als „reaktionärer Infantilismus“. Ganz in diesem Sinne meinte einst auch schon Montaigne: „Es gibt eine vorschülerhafte Unwissenheit, die dem Wissen vorangeht, und eine gebildete, die auf das Wissen folgt.“

Dagegen wäre einzuwenden, daß Vorschüler, also Kinder, von Natur aus eine Menge wissen, was ihnen dann später von den aktuellen Machthabern regelrecht ausgetrieben wird und an das sie sich erst im Alter, wenn sie Glück haben, wieder einigermaßen erinnern. Die Tiefe der „typischen Kinderliteratur“, der Märchen und Sagen und auch der Erzählungen der Lindgren gehören dazu, ob diese nun an Goethe heranreicht oder nicht. Ihre Anpassung an den politischen Zeitgeist ist und bleibt ein Skandal.

Um aber auch noch ein Wort zu Mark Twain zu sagen: Sowohl der „Tom Sawyer“ als auch der „Huckleberry Finn“ sind Meisterwerke von ungeheurer Eindrücklichkeit und Zeitlosigkeit, und ob man es nun gern hört oder nicht: Es ist just ihr „rassistischer“ und „antifeministischer“, aus schnöseliger Jungenhaftigkeit und handfestem Mississippi-Schiffer-Vokabular gespeister Jargon, der sie in die wahre Literatur hat eingehen lassen und sie gegen alle Versuche, sie anzupassen, immun macht.Die Sprache wehrt sich gewissermaßen in eigener Regie gegen die Eingriffe.

Merke: Wahre Literatur „dem sprachlichen und politischen Wandel anzupassen“, hieße, sie schlichtweg abzuschaffen.