© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/13 / 25. Januar 2013

Am Rande des Abgrunds
Pakistan: Ein islamistischer Prediger versetzt die alte Elite in Angst und Schrecken / Angst um Kontrolle der Atomwaffen nimmt zu
Günther Deschner

Seit Wochen überschlagen sich in Pakistan, dem weltpolitisch und strategisch prekärsten Staat Südasiens, die Ereignisse. Daß Zehntausende unter Führung des Geistlichen Tahir ul Qadri in der Hauptstadt für eine „Revolution“ demonstrieren, gleichzeitig der Kaschmir-Konflikt mit Indien wieder aufflackert, daß die Taliban ihren Krieg gegen das Militär fortsetzen, in Teilen des Landes Jagd auf religiöse Minderheiten gemacht und daß die Korruptionsanklage gegen Premier Ashraf ausgerechnet jetzt erhoben wird – ein Zufall ist es nicht.

Was in Pakistan derzeit geschieht, ist mehr als die in zwei Monaten anstehende Wahl in dem 180-Millionen-Staat, für die sich die politischen Protagonisten in Stellung bringen. Militär und Justiz etwa verlangen mehr Einfluß. Religiöse Fanatiker sorgen mit Bombenanschlägen gegen die schiitische Minderheit und gegen Miliäreinrichtungen für Unruhe. Doch die Konfliktlinien liegen tiefer: Eine Armutsrate von 50 Prozent, die Korruption der politischen Klasse, die Hilflosigkeit des Staates – das sind die Hauptübel, die Pakistan in ein Chaos verwandelten.

Auch ethnisch driftet Pakistan auseinander. Belutschistan im Westen – die Hälfte des Landes – will unabhängig werden; Unruhen gibt es schon. Teile des Punjab, Pakistans bevölkerungsreichster Provinz, möchten mit Indien wiedervereinigt werden; in Karatschi bekriegen sich Nachfahren indischer Einwanderer aus Bombay und zugezogene Paschtunen. Der 13-Millionen-Moloch ist zudem Brutstätte und Unterschlupf für Terrorgruppen und kriminelle Banden.

Peter Scholl-Latour brachte es kürzlich in drei Sätzen auf den Punkt: „Pakistan ist Chaos, ein viel größeres Problem als Iran oder Afghanistan. Das Land kann sich auflösen.“ Und Asienexperte Eberhard Sandschneider, Forschungsdirektor der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“, urteilt: „Pakistan ist der unsicherste Pfeiler der Sicherheitsarchitektur Südasiens.“

Die Fachleute halten Pakistan für ein gescheitertes Land und fürchten, daß staatliche Ordnung und politische Führung früher oder später von fanatischen Islamisten hinweggefegt und Terrororganisationen Tür und Tor geöffnet werden könnten. Ein Alptraum für die gesamte Region und auch den Westen. Denn Pakistan ist Atommacht.

Die zerrüttete innere Sicherheit des Landes wirft ein grelles Schlaglicht auf die fragwürdige Sicherheit von Pakistans Atomwaffenarsenal, mit hundert oder mehr nuklearen Sprengköpfen. Nicht auszudenken, wenn sie in die Hände religiöser Fanatiker oder Terroristen fielen.

Die Sicherheit der Atomwaffen wurde erstmals zum Thema, als die Taliban 2001 einen Angriff auf Pakistan androhten, falls das Land die USA unterstütze. Obwohl Pakistans Armee als (einziger) Anker der Stabilität gilt, könnten Islamisten oder andere Gruppen womöglich nukleares Material entwenden.

Experten gehen aber davon aus, daß Pakistan keine einsatzfertigen Atombomben lagert, sondern die Teile und das Material an geheimen Orten im ganzen Land verteilt hat – auch um möglichen Angriffen aus dem verfeindeten Indien kein leichtes Ziel zu bieten. Zwar seien, wie die Washington Post berichtete, die Sicherheitsvorkehrungen in Pakistan mit denen westlicher Länder vergleichbar, doch äußerten US-Stellen Bedenken, weil man „zuwenig wisse“. Daher hätten amerikanische Geheimdienste schon lange „Pläne für den Notfall“ – „auch Pläne, die dann greifen, wenn Pakistans Militär nicht mitwirken sollte“.

Islamabad nahm die Äußerungen sehr ernst und reagierte prompt. „Die Atomwaffen“ seien „so sicher wie in jedem anderen Land, das Atomwaffen besitzt“, so ein Sprecher des Außenamts. Es gäbe „die üblichen Vorkehrungen mit mehrfachen Sicherungen“. Zudem habe man, warnte der Sprecher mit Verweis auf mögliche Pläne des US-Verteidigungsministeriums, „ausreichend Kapazitäten, um die Atomwaffen und die Souveränität Pakistans zu schützen“.