© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/13 / 25. Januar 2013

„Lebt wohl!“
Willy Bernau erlebte Stalingrad von Anfang bis Ende. Einst war er einer von Tausenden, heute gehört er zu jenem etwa halben Dutzend Veteranen, die noch leben und gesund sind.
Moritz Schwarz

Herr Bernau, warum sind Sie dieser Tage nicht bei „Lanz“ oder „Maischberger“ im Fernsehen zu sehen?

Bernau: Ach wissen Sie, vor Jahren erhielt ich einen Anruf aus Leipzig ... das war wohl der Mitteldeutsche Rundfunk? ... man wolle mich zu Stalingrad interviewen. Aber dann fragten sie, ob ich auch etwas zum Thema „Nationalkomittee Freies Deutschland“ sagen könne. „Nee“, sagte ich, „zu den Verrätern fällt mir nichts ein.“ Da legten sie einfach auf.

Dort sammelten sich deutsche Soldaten, die in Gefangenschaft zum Kommunimus übergelaufen waren.

Bernau: Für uns waren das Verräter, das ist nun mal so. Aber so eine Meinung will man heute nicht mehr hören.

Warum nicht?

Bernau: Weil nicht verstanden wird, daß wir für Deutschland gekämpft haben, nicht für Hitler. Ich kann das sagen, denn ich war nicht mal in der Hitlerjugend. Mein Vater hatte es mir verboten, obwohl ich geweint habe, denn die machten dort diese Geländespiele. Aber er war kaisertreu, und so konnte unsere Familie die Nazis nicht leiden.

Sind Sie stolz darauf, in Stalingrad gekämpft zu haben?

Bernau: Stolz? Nein, aber wir sind stolz, unsere Pflicht getan zu haben! Das ist es, was niemand mehr versteht. Es liegt wohl daran, daß es heute kaum noch Patriotismus gibt, so fehlt das Verständnis.

Enttäuscht Sie das mangelnde Interesse?

Bernau: Nein, man kann das wohl nicht erwarten. Um ehrlich zu sein, ich habe meinen Vater auch nicht nach seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg gefragt.

Ihre Kinder haben kein Interesse?

Bernau: Leider nein. Allerdings habe ich hier im Ort einen Abiturienten – der interessiert sich sehr. Das freut mich natürlich ganz mächtig! Ach, das ist so ein netter Kerl! Er kommt immer sonnabends um vier. Dann befragt er mich und nimmt das mit seiner Kamera auf. Er hat davon auch eine DVD gebrannt. Der Junge ist mir eine große Freude. Ihm kann ich offen erzählen, wie es war, nicht so, wie es heute oft in den Medien gezeigt wird.

Inwiefern?

Bernau: Die zeigen alles so unfair, wenn nicht gar verlogen. Wenn ich schon den Namen Knopp höre ... Du liebe Zeit! Der bringt doch alles durcheinander!

Zum Beispiel?

Bernau: Der bringt unsere Landser doch immer wieder in Mißkredit! Ich kann Ihnen sagen, der Knopp ist bei uns allen vollkommen unten durch! Sind Sie etwa ein Kollege von ihm?

Ich kenne ihn nicht persönlich.

Bernau: Gut, denn ich nehme deshalb auch kein Blatt vor den Mund.

Uns wollten Sie zuerst auch kein Interview geben.

Bernau: Man weiß ja nie, dann wird hinterher wieder alles verdreht und entstellt, was ich zu erzählen habe.

Was haben Sie denn zu erzählen?

Bernau: Was wollen Sie denn wissen?

Wie fing es an?

Bernau: Wie fing es an? Bei Rußland denkt man ja an Eis und Schnee. Doch angefangen hat es mit unserem Vormarsch an den Don im Sommer 1942, bei brütender Hitze und schweren Kämpfen unserer Batterie gegen russische Panzer. Keiner ahnte, was Stalingrad einmal für uns bedeuten würde.

Dort traf Ihre Einheit Mitte August ein.

Bernau: Ich kam sogar bis hinunter an den Fluß und dachte damals: „Mein Gott, jetzt stehst du an der Wolga!“ Ich zog die Stiefel aus und ließ die Füße ins Wasser hängen, damit ich zu Hause erzählen könnte, ich habe in der Wolge gestanden. Das war im Norden, im Industriegebiet Stalingrads, wo wir die Stadt bis zum Fluß abgeriegelt hatten. Ich stand neben einem ausgebrannten Traktorenwerk nachdenklich am Ufer, blickte auf die Stadt und fragte mich, was sein würde, wenn der Winter kommt – die Truppe war ohne Winterbekleidung.

Rasch sank das Thermometer auf minus fünfzehn bis dreißig Grad.

Bernau: In einer Nacht waren es sogar minus vierzig! Mit Schließung des Kessels gab es nur noch fünfzig Gramm Brot pro Tag und Suppe mit Pferdefleisch. Tatsächlich starben Kameraden an Hunger, Kälte und Entkräftung, entsetzlich! Daß ich das überlebte, habe ich dem Tod eines anderen zu verdanken: Ich war Fahrer einer Zugmaschine DB 10, und einmal stand ein Kamerad mit einem Beutel am Wegesrand im Schnee und bat schwächlich, ich solle ihn mitnehmen. „Was hast du in dem Beutel?“ „Konserven.“ „Dann gehört aber eine davon mir!“ „Nein“, antwortete er, „alles meins, meins, meins!“ Ich nahm ihn dennoch mit, aber als wir ankamen, war er auf der Rückbank erfroren. Die DB 10, müssen Sie wissen, hatte kein Führerhaus, sondern war offen. So war seins jetzt doch meins, das hat mich gerettet. Ebenso wie das Kommißbrot, die zwei Würste und der Eimer Honig, die ich später in einem deutschen Verpflegungslager gefunden habe und die ich gut versteckt hielt. Ich konnte den Fund nicht teilen, sonst hätte ich nicht überlebt. Es war schrecklich.

Ebenso wie die Kämpfe.

Bernau: Natürlich. Das Schlimmste war, als der ausrangierte Bus, in dem unsere Gruppe untergezogen war, einen Volltreffer erhielt. Ich überlebte nur, weil ich ganz hinten saß. Nach der Explosion hörte ich einen getroffenen Kameraden nach mir schreien und dann verstummen. Ein anderer hing aufrecht in der Tür, er wollte noch etwas sagen, aber dann starb er. Wir Überlebenden zogen weiter, aber die Hoffnung schwand.

Als gespenstisch beschreiben Sie Ihre Begegnung mit einem Flugzeug.

Bernau: Ja, plötzlich war da ein großes Feuer inmitten vieler, vieler Soldaten. Als wir näher kamen erkannten wir, Landser hatten ein Blockhaus angezündet und etwa fünfhundert Kameraden standen, saßen, knieten darum herum, sich wie an einem riesigen Lagerfeuer wärmend. Dann kam die Nacht und plötzlich hörten wir Motoren. Ein deutsches Ju- 52-Transportflugzeug tauchte auf, zog dicht über uns hinweg und warf Ladung, vermutlich Brot, ab. Doch wir konnten die Pakete nicht mehr erreichen. Die Maschine wackelte schließlich mit den Flügeln und entschwand – das war wie ein letzter Gruß: „Lebt wohl Kameraden!“ Was wir dabei fühlten, läßt sich nicht beschreiben.

Dann kam ...

Bernau: ... die Gefangenschaft, ja. Es war allen klar, daß es jetzt zu Ende ging. Ich hatte noch eine Dose Bohnen und die erwärmte ich auf meinem Esbit-Kocher. Als ich aufschaute, stand da plötzlich ein russischer Offizier. Ich starrte ihn an, aber er fragte nur ganz ruhig: „Was machst du da?“ Ich unsicher: „Kuschet“, zu deutsch: „Essen“ Da meinte er: „Iß erst mal fertig und dann antreten.“ Das war’s. Kein „Dawai, dawai!“, kein „Ruki werch!“, zu deutsch: „Hände hoch!“ Das war unsere Gefangennahme.

Wie erklären Sie sich das?

Bernau: Das waren Fronttruppen, genau wie wir.

Was bedeutet?

Bernau: Die hatten Ehre im Leib. Wir wurden von ihnen gut behandelt. Ja, sie forderten uns sogar auf, uns für den Marsch in die Gefangenschaft noch mit allem Nützlichen zu versehen, was wir finden konnten. Als ich einmal selbst russische Gefangene zu transportieren hatte, hatte ich auch unterwegs haltgemacht und ihnen Gelegenheit gegeben, nach Brauchbarem für sich zu suchen. Ein Kamerad bekam von dem Offizier, der mich gefangengenommen hatte, sogar neue Stiefel – das aber sollte sein Verderben sein.

Warum?

Bernau: Als wir an die rückwärtigen Truppen übergeben wurden, fingen Terror und Schinderei an. Sie nahmen uns alles ab, was von Wert war. Der Kamerad mit den neuen Stiefeln mußte diese abgeben und stand mit nackten Füßen im Schnee! Bald darauf starb er. Wer auf dem Marsch nicht mehr konnte, wurde im Straßengraben erschossen. Weiter ging es in Viehwaggons nach Osten, täglich mußten wir die Verhungerten und Erfrorenen herausreichen – und wehe denen fehlte ein Kleidungsstück!

Wie haben Sie das überlebt?

Bernau: Ich weiß es nicht. Aber irgendwann war das Schlimmste vorbei und der Krieg auch. Weil ich als Dystrophiker chronisch unterernährt war, wurde ich nicht zu schwerer Arbeit eingeteilt, sondern mußte Tuchschuhe für die Frauen der Offiziere herstellen. Nach dem 8. Mai 1945 landete ich auf der Liste der Entlassungskandidaten und war schon für den Transport aufgerufen worden. Dann sah ein Offizier meinen Namen und sagte: „Der macht doch die schönen Schuhe!“ und strich mich, weil „Spezialist“, wieder. So ging das insgesamt zweimal, bevor ich im Oktober 1945 tatsächlich entlassen wurde und nach Jüterbog in mein Elternhaus zurückkehren konnte, wo ich heute noch lebe. Aber oft denke ich an die vielen tausend Kameraden, denen das nicht vergönnt war und die für immer auf dem Schlachtfeld, im Schnee oder im fernen russischen Osten geblieben sind.

 

Willy Bernau, geboren 1920 in Jüterbog. Der ehemalige Unteroffizier (rechts) diente als Soldat der 9. Flak-Division der Panzergruppe „Kleist“ in Stalingrad. Als einer der wenigen Stalingrader überlebte er die Gefangenschaft und kehrte im November 1945 nach Hause zurück, wo er bis 1985 zunächst als freier, später als LPG-Landwirt arbeitete.

Foto: „Die Verdammten“ von Otto Herrmann (Kreidelithographie, 1947): „Das Flugzeug wackelte mit den Flügeln und entschwand – das war wie ein letzter Gruß: ‘Lebt wohl Kameraden!’ Was wir dabei fühlten, läßt sich nicht beschreiben.“

 

weitere Interview-Partner der JF