© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/13 / 18. Januar 2013

Korrekt statt kunterbunt
Kinderbuch-Klassiker: Immer mehr Verlage „reinigen“ unzeitgemäße Textstellen
Ellen Kositza

Der traditionsreiche Thienemann-Verlag bewegt die Gemüter mit der Ankündigung, Otfried Preußlers „Die kleine Hexe“ sprachlich zu modernisieren. Unter anderem sollen sich die Kinder, die im Buch Fasching feiern, nicht mehr als „Negerlein“, „Chinesin“ und „Türke“ verkleiden. Auch andere Textteile, die nicht den (aus der „Kritischen Weißseinsforschung“ und damit strammer Antifa-Ideologie entstammenden) „Blackfacing“-Verdacht betreffen, sollen modernisiert werden. Eine Statistik der Meinungen aus der Leserschaft läßt sich schwer erstellen. Sieht und hört man sich um in der gedruckten Presse, im Netz und in Rundfunksendungen zum Thema, dann dürften rund 95 Prozent der (Vor-)Leser diesen Vorstoß als albern, hysterisch, kunstfeindlich oder ahistorisch, jedenfalls als übergriffig empfinden. Selbst auf den Kommentarseiten der urlinken taz finden wir dieses eindeutige Bild. Die Thienemann-Verlagsleitung selbst spricht von einem Prozent beifälliger Zuschriften.

Das Vorgehen an sich ist alles andere als neu. Dazu braucht man nicht die Maßnahmen zur Lenkung der Kinder- und Jugendliteratur im NS-Schrifttumsbetrieb anzuführen, die weniger auf Verbot denn auf Selbstzensur durch die Verlage hinwirkten. In jüngerer Zeit haben zahlreiche Verlage ihre Klassiker reformiert. In Übersee wurden Mark Twains Rothäute zu Indians, bei Michael Ende wurde „Neger“ ersatzlos getilgt, Esslinger macht in „Lurchis Abenteuern“ aus dem „Negerlein“ ein „Schornsteinfegerlein“, Oetinger aus Pippi Langstrumpfs Vater, dem legendären „Negerkönig“ einen „Südseekönig“, und der cbj Verlag überarbeitete Enid Blytons Bücher nach noch artigeren Kriterien: Es werden keine Ohrfeigen mehr ausgeteilt, und geschlechtsspezifisches, heute als sexuell inkorrekt markiertes Verhalten wurde in den neuen Editionen genderkonform aufgebrochen. Die Noch-zu-erledigen-Liste ist unermeßlich lang. In vielen Kinderbuchklassikern – von der Erwachsenenliteratur, an die sich Sprachwächter noch nicht recht herantrauen, ganz zu schweigen – dominiert eine Weltsicht, die heute als „klischeehaft“ empfunden werden könnte. Männlichkeitsmythen, „überkommene“ Frauenrollen, Arbeiterklischees, hierarchische Verhältnisse; die „Zwerge“ (Kleinwüchsige?) in Grimms Märchen, die Muselmanen bei Hauff, die „gefährlichen Negersklaven“ in Lindgrens „Lotta“. Und wie heißt der hochaggressive Ziegenbock in Johanna Spyris „Heidi“? Es ist der „Türk“, und man könnte den Namen mit leichter Feder umändern, gern mit der Begründung, es ändere weder Lesefluß noch inhaltliche Stringenz, wenn der „Türk“ nun „German“ hieße. Auch die Übersetzung des großartigen, preisgekrönten Romans „Julie von den Wölfen“ spricht noch in ihren jüngsten Übersetzungen von „Eskimos“, wenngleich jede Grundschullehrerin längst weiß, daß es „Inuit“ heißen müßte.

Naiv erscheint das Hohngelächter zahlreicher Stimmen, die argwöhnen, bald würde selbst das Kinderlied von den „Zehn kleinen Negerlein“ aus dem Kanon des Singbaren getilgt werden: Kein vernünftiger Erzieher hat den Reim nicht längst abgewandelt in „Kinderlein“ – oder ist auf grundlegend moderneres Sangesgut ausgewichen. Otfried Preußlers Bücher sind Lagertitel, obgleich allein „Die kleine Hexe“ rund 4,3 Millionen mal weltweit verkauft wurde. Das aktuelle Programm, inklusive der Publikationen der neuen verlagseigenen Sparte „Planet Girls“, artikuliert sich von Anfang an hochprogressiv. Man paßt sich an. Um nicht anzuecken, um auf den „Positivlisten“ zu erscheinen, die jüngst die Bonner Bibliotheksleitung gemeinsam mit dem Verband binationaler Partnerschaften erarbeitet hat (wieder die deutsche Neigung zu Listen!) – oder weil man schlicht schließt: Ob Kinder nun als Chinesenmädchen oder Batman gehen, ob Anne oder Richard den Abwasch besorgen, ob der Vater eine autoritäre Standpauke hält oder ein Gespräch auf Augenhöhe anberaumt, tue der Lektüre im Kern keinen Abbruch. Mag sein, daß das kürzlich von Familienministerin Kristina Schröder (CDU) geäußerte Ansinnen, das N-Wort beim Vorlesen (für ihre aktuell nicht sprachkundige, anderthalbjährige Tochter) weglassen zu wollen, als Pfortenöffner für den Literaturreparaturbetrieb diente. Motto: Wenn das sogar eine durch und durch Konservative sagt ...

Die Authentizität des Werks müsse der „sprachlichen Weiterentwicklung untergeordnet“ werden, findet Thienemann-Chef Klaus Willberg, selbst Adoptivvater einer dunkelhäutigen Tochter. Das heißt doch: sprachlich begradigen und reinigen, was nicht der aktuellen politischen Wünschbarkeit entspricht. Vor Jahrzehnten gab es für mißliebige künstlerische Ausdrucksformen den Begriff des Entarteten. In Säuberungsabsicht mit dem Sterilisator mutmaßliche Keime ausmerzen – Verleger Willberg begründet seine Aktion damit, die Werke „zeitlos“ zu machen. Er befindet sich damit in alter Tradition. Der Zeitgeist korrumpiert fast jeden. Der Unterschied zu früheren Säuberungstaten und ähnlichen in Dystopien beschriebenen Vorgängen besteht darin, daß hier und heute die Kundschaft ihren Unwillen darüber öffentlich, sogar massenhaft kundtun kann, ohne daß deren Meinungsäußerung sanktioniert würde. Allein: Es ändert nichts.

Es werden keine Verkaufszahlen einbrechen. Geändert, gegendert und „angepaßt“ wird weiterhin. Der Strom treibt uns mit. Rudern wir ruhig ein wenig dagegen. Die Richtung wird sich nicht ändern.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen