© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/13 / 04. Januar 2013

Der Geist bleibt Herr im Hause
Die Physikerin und Philosophin Brigitte Falkenburg zieht die Grenzen neurowissenschaftlicher Weltdeutung
Knut Seiler

Am profanen Forschungsalltag in Laboren und Instituten nahm die Öffentlichkeit lange keine große Notiz. Diese Ignoranz ist seit dem Jahrtausendwechsel einer mitunter hysterischen oder auch euphorischen Aufmerksamkeit für die wissenschaftlich-technologischen Dimensionen moderner Lebenswelten gewichen. Seitdem illustrieren Debatten über Internet-Revolution, Genom-Entschlüsselung oder Klimawandel veränderte Wahrnehmungsgewohnheiten. Davon profitiert auch ein Fächerkonglomerat, das unter der Kurzformel „Hirnforschung“ wissenschaftliche Periodika dominiert und inzwischen längst im Feuilleton präsent ist.

Diese enorme Resonanz ist nicht dem urplötzlichen Ausbruch einer Leidenschaft für neuronale Netzwerke des menschlichen Gehirns, für Neurone, Axone, Synapsen, Dendriten geschuldet. Denn die biochemischen Feinheiten der Signalübertragung, die Details neuronaler Prozesse, auf die Hirnforscher menschliches Bewußtsein reduzieren, spielen in populären Diskursen eher eine Nebenrolle. Im Vordergrund stehen die von elf führenden Hirnforschern 2004 in einem „Manifest“ exponierten Folgen neurowissenschaftlicher Forschung für das menschliche Selbstverständnis. Im Zentrum ihrer Thesen steht die Behauptung, alles menschliche Handeln sei „neuronal determiniert“, die Freiheit des Willens sei eine Illusion.

Brigitte Falkenburg (TU Dortmund) hat diesen „Determinismus“ als die weltanschaulich bedeutsamste Synthese milliardenschwerer Forschungsprojekte ins Visier ihrer Kritik genommen. Dabei läßt sie, um einen blinden Fleck ihrer 400seitigen Auseinandersetzung vorweg zu markieren, die umwälzenden politisch-gesellschaftlichen Konsequenzen neurowissenschaftlicher Negierung der Willensfreiheit ganz unter den Tisch fallen. Ihr genügt es, diesen Determinismus als „Mythos“ zu entlarven, so daß der daran geknüpfte szientistische Sozialutopismus von selbst zerfällt. Und für diese Dekonstruktion des Mythos ist die 59jährige, seit 1997 auf einem Lehrstuhl für Philosophie der Wissenschaft und Technik, als promovierte Physikerin und Philosophin in „zwei Kulturen“ zu Hause, bestens gerüstet.

Primär ihre Kompetenz als Physikerin spielt Falkenburg aus, wenn sie die wissenschaftstheoretischen Fundamente der Hirnforschung prüft. Die verweisen nämlich auf Physik und Mathematik als naturwissenschaftliche Leitdisziplinen. Doch die neurowissenschaftlichen Erklärungsmodelle elektrochemischer und zellbiologischer Phänomene, die in unserem Kopf auftreten, und die mit den bunten „Hirnscans“, Magnetresonanztomographie, der Analyse neuropathologischer Symptome (Epilepsie, Parkinson, Depressionen) oder mit scheinbar simplen Reiz-Reaktions-Versuchen zu erfassen sind, bleiben, gemessen an den Standards physikalischer Theoriebildung, erstaunlich unterkomplex. Trotzdem reklamieren Hirnforscher für ihre Ergebnisse gern deren Übereinstimmung mit „Naturgesetzen“. Wie Falkenburg, wissenschaftshistorisch weit ausholend, auf Descartes, Galilei, Newton zurückgehend, nachweist, sind Neuromedizinern offenbar die Erschütterungen des klassischen Gesetzesbegriffs spätestens seit Max Plancks Quantentheorie entgangen. Denn entsprechend problematische Definitionen über Kausalität und Determination kursieren in ihren Veröffentlichungen. So werde nicht rezipiert, daß kausale Prozesse nur teilweise deterministisch, teilweise aber auch indeterministisch ablaufen.

Die traditionellen Merkmale der Kausalität, die zeitliche Richtung und die Verknüpfung nach einem strikten Gesetz, sind tatsächlich in ein „abwechselnd realisiertes Mischmasch beider Charakteristika aufgesplittet“. Diese Kausalitätstheorie erklärt auch neuronale Mechanismen präziser, die wie alle biologischen Prozesse nichtlinear sind und Verzweigungspunkte passieren, an denen ihr weiterer Verlauf „nicht determiniert“ ist. Weitaus peinlicher als das naive Verständnis von Kausalität ist das Versagen bei der Herleitung des Zeiterlebens.

Für den Münchner Hirnforscher Ernst Pöppel ist Bewußtsein von Zeit gleichbedeutend mit Bewußtseinsinhalten, die ein neuronaler „Integrationsmechanismus“ für das Jetzt über etwa drei Sekunden hinweg gegenwärtig hält. Über die Funktionsweise dieses geheimnisvollen Mechanismus, der mit dem Zeiterlebnis „Gegenwart“ zugleich das Ich-Bewußtsein konstituieren soll, verrate Pöppel, so merkt Falkenburg fast süffisant an, aber leider nichts.

Er stehe damit als Theoretiker auf demselben Niveau wie sein umtriebiger Kollege Wolf Singer (MPI Frankfurt), die mediale Galionsfigur der Hirnforschung. Auch Singer antwortet nicht oder vorzugsweise mit hohlen Metaphern von „feuernden Neuronen“ oder Computer-Analogien auf die drängendste Frage, die sich seinem Fach stellt, wie sich physische Phänomene, neuronale Mechanismen und Hirnströme, in mentale Phänomene, in Bewußtsein und Selbstbewußtsein, Geist und kognitive Leistungen verwandeln.

Die Zuflucht, die Singer und seine Mitstreiter im physikalischen Vielteilchen-System nehmen – in der Hoffnung, einen „Bindungsmechanismus“ zu finden, der plausibilisiert, warum in einem dynamischen System höherstufige Eigenschaften auftreten, die auf der tieferen Organisationsebene der Teilchen oder Neurone nicht zu beobachten sind – führte offenkundig in eine Sackgasse. Denn mentale Phänomene lassen sich eben nicht in dem Umfang objektivieren, vermessen und durch Naturgesetze beschreiben wie Phänomene der Teilchenphysik. Zumal auch die schönsten Hirnscans erst zu „sprechen“ beginnen, wenn die Versuchsperson Auskunft über ihr subjektives Erleben erteilt. Wie keine andere Naturwissenschaft sei die Hirnforschung daher im Subjektiven verstrickt und bislang außerstande, aus ihrem Forschungsgegenstand, „Geist“, ein naturwissenschaftlich handbares Phänomen zu machen, „Bewußtsein“ unter kontrollierbaren Bedingungen als stabile und reproduzierbare Naturerscheinung „in den Griff zu bekommen“.

Solange die Hirnforschung an dieser Aufgabe scheitere, glaubt Falkenburg mit den besseren wissenschaftlichen Argumenten behaupten zu dürfen: „Die höheren Organisationsformen lassen sich nicht lückenlos aus den niedrigeren herleiten. Und der Geist nicht aus der Natur.“

Wissenschaftliches Publikationsverzeichnis von Prof. Dr. Dr. Brigitte Falkenburg: ifpp.fk14.tu-dortmund.de

Brigitte Falkenburg: Mythos Determinismus –Wieviel erklärt uns die Hirnforschung. Springer-Verlag, Heidelberg 2012, 458 Seiten, gebunden, 24,95 Euro

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