© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/13 / 04. Januar 2013

Sex als Chiffre
Ausbeuter und Ausgebeutete: „Paradies: Liebe“ von Ulrich Seidl im Kino
Martin Lichtmesz

Im September letzten Jahres machte der österreichische Regisseur Ulrich Seidl weltweit Schlagzeilen, als ihn eine italienische katholische Organisation wegen „Blasphemie“ anzeigte. Grund: Der auf den Filmfestspielen in Venedig aufgeführte Film „Paradies: Glaube“ deute in einer Szene eine Masturbation mit einem Kruzifx an, womit Seidl „zwei Milliarden Christen auf der Welt beleidigt“ habe. Wie in heutigen Zeiten zu erwarten, hatte die Anzeige außer positiver Publicity wenig Konsequenzen für den sechzigjährigen Filmemacher, der Kontroversen um sein Werk gewöhnt ist.

Auf seiner Internetseite hat der im vergangenen November sechzig gewordene Seidl ironisch die Schubladen aufgelistet, in die man ihn gerne steckt: „Zyniker“, „Pessimist“, „Menschenverachter“, „Provokateur“, „Voyeur“ oder „Sozialpornograph“. Er selbst sieht sich schlicht als „Regisseur und Drehbuchautor“. Seit seinem Debüt „Good News“ (1990) hat der krasse Naturalismus seiner Filme auf Kritik und Publikum eine äußerst polarisierende Wirkung ausgeübt. Daran hat auch sein Wechsel vom Dokumentar- ins Spielfilmfach nichts geändert.

Einen Seidl-Film erkennt man auf den ersten Blick: Die beispiellosen Selbstentblößungen der Darsteller werden in streng komponierten Tableaus eingefroren, und kaum gelangt die Kamera näher als bis zu einem Brustbild. Die Szenen werden ohne Schnitt durchgespielt und gelegentlich bis zur Schmerzgrenze ausgedehnt. Diese Mischung aus Intimität und Distanz erzeugt eigentümliche Effekte: von absurder Komik bis zur scheinbar mitleidlosen Aufzeichnung menschlicher Misere und Gebrochenheit. Wer aber bereit ist, sich auf diesen Blick einzulassen, wird schnell spüren, daß es dem Regisseur nicht um Vulgarität und Grausamkeit um ihrer selbst willen geht. „Nie möchte man in eine Welt geboren sein, die Ulrich Seidl zeigt“, bemerkte einmal sein ehemaliger Mentor Werner Herzog, „und darin steckt eine tiefe Sehnsucht, eine Utopie.“

In der Tat durchzieht Seidls Filme eine durchaus christlich durchtränkte Melancholie, eine Sensibilität der Desillusionierung und des Gefallenseins, die er mit anderen katholisch geprägten Ikonoklasten wie Pasolini, Bresson oder Buñuel teilt. Seine „Paradies“-Trilogie formuliert explizit einen Anschluß an christliche Bedeutungsfelder; die drei separat anlaufenden Filme tragen die paulinischen Kardinaltugenden im Untertitel: Liebe, Glaube, Hoffnung.

Auch der nun in den deutschen Kinos zu sehende erste Teil, „Paradies: Liebe“, birgt reichlich Stoff zur Anstoßnahme. Die etwa fünfzigjährige, übergewichtige Teresa (Margarethe Tiesel) wird während eines Kenia-Urlaubs von einer einschlägig erfahrenen Freundin angestiftet, sich mit dortigen Gigolos einzulassen, die auf weiße „Sugar Mamas“ spezialisiert sind. Wobei zum sextouristischen Angebot für Frauen in der Regel auch die Inszenierung einer romantischen Illusion gehört.Teresas gekaufte Romanze mit Munga (Peter Kazungu) zerplatzt, als seine Geldforderungen immer dreister und häufiger werden. Allzu bereitwillig ließ sich Teresa belügen: Mungas hilfsbedürftige „Schwester“ mit dem kranken Baby ist natürlich in Wirklichkeit seine Frau; er prostituiert sich, um seine Familie zu ernähren, zu der ein Rattenschwanz von Verwandten gehört.

Die „Liebe“ läßt sich nicht kaufen, der Sex am Ende allerdings genausowenig: Eine entsprechende Szene nach der anderen läßt der Regisseur in beschämender Peinlichkeit und Frustration untergehen. Teresas „Paradies“-Traum kreist allerdings weniger um den Mythos vom schwarzen Mann als Sexualobjekt, über den sie nun kraft ihrer privilegierten Stellung als weiße Frau aus den Wohlstandszonen der Welt scheinbar verfügen kann. Der Sex ist hier lediglich eine Chiffre für die Sehnsucht nach „wahrer“ Liebe, die den Marktwert von Jugend und Schönheit aufsprengt.

In einer Szene schildert Teresa ihren Leidensgenossinnen ihren tiefsten Wunsch: daß ihr ein Mensch in die Augen sieht und sie als sie selbst „meint“, wahrnimmt und liebt, jenseits des verfallenden, alten und fetten Fleisches, jenseits dessen, was für beide herausspringt, jenseits des Warencharakters ihres Körpers – oder auch dessen der Gigolos.

Seidls „Utopie“ war nie deutlicher zu spüren als in diesem Film. Sie schimmert stetig durch die Erniedrigungen und Selbsterniedrigungen seiner Figuren, ob sie nun darum ringen, ihre Würde zu wahren, oder ob sie sie aus Verbitterung, materieller Not oder ungenierter Selbstherrlichkeit über Bord werfen. Das letztendliche Urteil überläßt Seidl, wie immer, dem Betrachter selbst. Er denunziert weder das postkoloniale „Negerkaufen“ der weißen Frauen, noch die Skrupellosigkeit der schwarzen „Beach-
boys“, die ebenso auf der Klaviatur des „Hakuna Matata“-Afrika-Kitsches wie des westlichen Schuldgefühles zu spielen verstehen.

Dennoch blickt er auf diese Welt, in der Ausbeuter und Ausgebeutete einander stetig abwechseln, mit Traurigkeit und Erbarmen, auf eine subtile, respektvoll distanzierte Weise, die mancher unaufmerksame Zuschauer mit Kälte und Zynismus verwechseln mag.

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