© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/12 - 01/13 / 21./28. Dezmber 2012

Der Flaneur
Eisenbahn der Generationen
Paul Leonhard

Im Wohnzimmer der Eltern rattert und surrt etwas. Es hört sich irgendwie vertraut an. Kindheitserinnerungen kommen zurück. Sollte etwa? Und wirklich, Vater hat die Eisenbahn aufgebaut. Mitten auf dem Stubentisch. Er hat eine Acht aus schmalen Schienen gelegt und darum herum einen weiteren Schienenkreis. Eine silberfarbene Diesellok und eine schwarze Dampflok fahren auf den Gleisen.

Jahrelang habe ich zu Weihnachten Teile dieser Bahn geschenkt bekommen. Erst fuhr sie nur um den Weihnachtsbaum. Dann kamen Häuser, Tunnel, Signalanlagen, ein größerer Trafo dazu. Eine Welt in Spurweite TT entstand. Spielen durfte ich damit nur unter Aufsicht und auch dann nur wenige Minuten. Zu empfindlich seien die kleinen Loks, wurde ich belehrt. Ich müßte erst größer werden. Also spielte ich lieber mit Matchboxautos und Lego-Bausteinen. Vater bastelte derweil an einer großen Eisenbahnplatte, die auf Rollen unter meinem Bett Platz fand. Daß er dabei im Wettbewerb mit seinem besten Freund stand, erfuhr ich erst viel später.

Schienen und Eisenbahnwagen bekam ich geschenkt. Über einen, den vom Großvater, freute ich mich wirklich. Daß ich damit spielen durfte, lag an einem Versehen. Statt Spurweite TT hatte Opa HO gekauft. Vater konnte damit nichts anfangen, ich sehr wohl.

40 Jahre später mistet Vater aus, will Bahn und Schienen loswerden. Der Enkel soll alles bekommen. Vorerst aber spielt jemand ganz anderes damit: meine Frau. Als sie den Regler bedient und sich die Züge in Bewegung setzen, leuchten erst ihre Augen und dann die meines Vaters. Die Diesellok zieht die grünen Reisewaggons und den roten der Mi­tropa. Im Inneren flackern die Lichter auf. Alles funktioniert. Vater ist stolz. Ich will auch mal, schließlich ist es ja meine Bahn. „Finger weg“, entfährt es Vater. Ich zucke zusammen, Vater auch. Meine Frau läßt er gewähren. Er ist nicht einmal sauer, als ihre Unachtsamkeit um ein Haar zum Zusammenstoß der Lokomotiven führt. Mutter rettet im letzten Moment die Dampflok. Sie nimmt sie kurzerhand von den Schienen.

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