© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/12 - 01/13 / 21./28. Dezmber 2012

Impulse für den Antiimperialismus
Max von Oppenheims Dschihad für den Kaiser: Der Historiker Stefan M. Kreutzer bietet eine neue Sicht auf die Orientpolitik des Deutschen Reiches
Günther Deschner

Vieles über ihn liest sich wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, anderes wie ein Kapitel aus einem politischen Krimi. Max von Oppenheim (1860–1946), Sproß einer deutsch-jüdischen Kölner Bankiersdynastie, widersetzte sich der für ihn vorgesehenen Karriere, als Partner in die Privatbank einzutreten. Seine Eltern – die Mutter war katholisch, der Vater hatte schon vor der Hochzeit die Taufe genommen – waren daran nicht unschuldig: Seit sie ihrem Sohn, als er 14 war, eine Prachtausgabe der „Märchen aus Tausendundeiner Nacht“ unter den Weihnachtsbaum gelegt hatten, galten seine Interessen nur noch dem Orient. Folgerichtig fand er – nach einem Jurastudium in Straßburg – seine Berufung in der Beschäftigung mit dem Nahen Osten, die er als Forschungsreisender, Ethnologe, Archäologe, als Diplomat und politischer Berater auslebte.

Seinen Interessen folgend lernte Oppenheim nach dem Studium Arabisch und unternahm erste Reisen in die Region seiner Begierde. 1892 zog er ganz nach Kairo. Der Nilstaat, seit 1882 britisch besetzt, wurde für ihn zur Basis. Seine Versuche, in den diplomatischen Dienst des Deutschen Kaiserreichs einzutreten, gestalteten sich schwierig: Der Name Oppenheim klinge „zu semitisch“, bekam er zu hören, doch 1896 kam der Freiherr doch zum Ziel. Als „Minister-Resident“ wurde er „systematischer Beobachter der ganzen islamischen Welt“ „mit Anbindung“ ans deutsche Generalkonsulat in Kairo und das Auswärtige Amt (AA).

Oppenheim wohnte dort nicht im Diplomatenviertel, sondern erwarb ein Haus im arabischen Stil, pflegte intensive Kontakte zur arabischen Elite. Regelmäßig traf er den Vizekönig (den „Khediven“), diskutierte über Fragen des Islam, sprach mit nationalistischen Oppositionellen, Reformern, Scheichs und Gelehrten – auch im Libanon, Syrien und der Türkei. Den Franzosen, noch mehr den Briten, erschien er bald verdächtig. Sie sahen in ihm den Meisterspion Wilhelms II., „The Kaiser’s Spy“. Vor allem wegen enger Kontakte zur nationalägyptischen Opposition erschien er ihnen gefährlich.

Als 1899 sein Werk „Vom Mittelmeer zum Persischen Golf“ gleichzeitig auch mit englischen und französischen Ausgaben erschien, war Oppenheims Ruf als Orientexperte etabliert. Der Kaiser bat den Autor ins Berliner Schloß und erwartete regelmäßige Sonderberichte von ihm. Oppenheim bestärkte ihn darin, Deutschland möge im Orient keinen Kolonialbesitz anstreben, aber in Wirtschaft und Kultur als Partner auftreten.

Doch 1910 bat Oppenheim um seine Entlassung – er wollte die Tempelanlagen einer 1899 von ihm entdeckten 3.000 Jahre alten aramäischen Stadt auf dem nordsyrischen Tell Halaf ausgraben. Die Schätze, die er bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs aus dem Wüstensand holte, machten ihn weltberühmt – doch am Tag der Mobilmachung meldete sich der Patriot Oppenheim wieder zum Dienst: Er wollte der deutschen Position im Nahen Osten einen „entscheidenden Impuls“ verschaffen.

Das Mittel hierzu sah er in der Ausrufung des „Heiligen Krieges“. Zwei Monate nach Kriegsausbruch legte er dem Kaiser seine Denkschrift mit dem Titel „Die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde“ vor und Wilhelm II. stimmte zu. Die 136 Seiten waren streng geheim und sind noch heute wenig bekannt. In seinem Dschihad-Plan ging es Oppenheim darum, durch Revolten das „islamische Hinterland unserer Feinde“ zu destabilisieren und so die Hauptfronten zu entlasten.

Unabhängigkeitsbewegungen und Revolten in den Herrschaftsgebieten Englands, Frankreichs und Rußlands sollten die Fronten in Europa entlasten, ihre Truppen in Übersee binden und die Rekrutierung frischer Kräfte verhindern. Ein vom verbündeten osmanischen Sultan und Kalifen verkündeter Dschihad, ein „heiliger Krieg“, sollte weltweit die Muslime gegen die Entente aufwiegeln und auf seiten Deutschlands in den Krieg führen. Im November 1914 erklärte der „Sheikh ul-Islam“, die oberste religiöse Autorität, in Istanbul, damals noch Konstantinopel genannt, tatsächlich den Heiligen Krieg, wie ihn Oppenheim konzipiert hatte. So entstand die politische Formel vom „deutschen Abu Dschihad“ – und damit die Behauptung, Oppenheim sei ein geistiger Wegbereiter des islamistischen Terrors unserer Tage.

Der umstrittene Historiker Fritz Fischer etwa sah in Oppenheims Konzept der „Revolutionierung“ einen weiteren „Beweis“ für den deutschen „Griff nach der Weltmacht“. Angelsächsische Historiker und Publizisten wie Peter Hopkirk und Donald M. McKale nennen Oppenheims Konzept einer deutschen Orientstrategie den „perfiden Versuch, das britische Empire zu vernichten und an seiner Stelle ein deutsches Weltreich zu errichten“.

Jetzt hat Stefan M. Kreutzer, der in München Geschichte und Kultur des Nahen Orients sowie Turkologie studierte, eine detailreiche Untersuchung vorgelegt, die einen Blick durch das biographische Mikroskop, gewissermaßen über die Schulter eines der bedeutendsten deutschen Akteure im Orient, wirft. Anhand umfassender Literatur und der Akten aus dem Archiv des AA untersucht Kreutzer die praktische Umsetzung der Strategie mit kritischer Akribie – und gelangt zu einer völlig gegensätzlichen Interpretation. Anders als die britischen und deutschen Kritiker der „Rücksichtslosigkeit“ der Nahost-Kriegspolitik des deutschen Kaiserreichs zieht er ein ganz anderes Fazit: „In Anbetracht des Autonomie und Selbstbestimmung fordernden Revolutionierungsprogramms Oppenheims“, so Kreutzer, „enthielt die deutsche Nahostpolitik auch antiimperialistische Tendenzen.“

Er legt dar, daß der Dschihad gegen die Entente nicht nur aktuell die Kriegsgegner schwächen, sondern die Herrschaft der Entente vom Maghreb bis an den Hindukusch ein für allemal beenden und die Völker des Orients in die Unabhängigkeit führen sollte. Insofern bot Deutschland in der Perspektive auch eine freiheitliche Alternative zu den Ententemächten, indem es die Selbstbestimmung des Orients propagierte. Der Dschihad „made in Germany“ war ein Aufruf zum legitimen Unabhängigkeitskampf und sollte nicht nur die Kriegsgegner schwächen, sondern den Orient von europäischer Vorherrschaft befreien. Mit großer Genauigkeit, frei von Vorurteilen und ohne Scheuklappen geht der Autor diesen Fragen nach.

Allerdings: So kühn wie dies alles gedacht war, so realistisch sich von Oppenheims geostrategische Planspiele auch angesichts der von ihm früh wahrgenommenen „wachsenden Macht der USA“ und der Notwendigkeit, den europäischen „Großraum“ dagegen zu organisieren, auch ausnehmen mögen: Ihre Ausführung scheiterte kläglich. Die erhofften Aufstände brachen nicht aus. Der Krieg entschied sich auf den Schlachtfeldern Europas.

Daß die deutschen Pläne jedoch auch erfolgreich hätten verlaufen können, zeigen Kreutzers Kapitel über drei andere Protagonisten der deutschen Orientaktivitäten: Oskar von Niedermayer, Werner Otto von Hentig und Wilhelm Waßmuß. Deren Wirken und ihre Rezeption in Afghanistan und Persien geben Aufschluß über den Sinngehalt der deutschen Revolutionierungsbemühungen im Orient und lassen erkennen, daß Oppenheims Revolutionierungsprogramm tatsächlich antiimperialistische Impulse entfachte. „Mit dem Gesamtkomplex werde ich mich weiter befassen“, so Kreutzer gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. „An meiner Dissertation arbeite ich gegenwärtig. Thema ist der deutsche Diplomat Wilhelm Waßmuß, der während des Ersten Weltkrieges im Iran tätig war.“

Stefan M. Kreutzer: Dschihad für den deutschen Kaiser. Max von Oppenheim und die Neuordnung des Orients (1914–1918). Ares Verlag, Graz 2012, gebunden, 192 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

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