© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/12 - 01/13 / 21./28. Dezmber 2012

„Es schwebte etwas Heiliges in dieser sibirischen Nacht“
Gefangen im Gulag: Inmitten von Kälte, Entbehrung und Mühsal erlebt die Estin Heli Susi ein ganz besonderes Weihnachten
Heli Susi

Im Herbst und Winter 1950/51 hauste unsere aus Estland deportierte Familie in Chakassien (Krasnojarsk, Rayon Sarda) in einer Kammer einer alten langgezogenen Balkenbaracke, bestehend aus zehn aneinandergepreßten Einheiten. Sie waren in den dreißiger Jahren von hierher deportierten Kulaken, Kalmücken und anderen Vertretern der zur Ausrottung bestimmten nationalen Minderheiten der Sowjetunion errichtet worden. Die Wände der Baracke waren mit einer Mischung aus verbranntem Kalk und Viehmist verdichtet und weiß übertüncht.

Unsere Wohnzelle war etwa 2,5 mal 4,5 Meter groß. Eine bis zur halben Zimmerbreite reichende Bretterwand trennte sie von dem Küchenraum, enthaltend Herd, Hocker mit Waschschüssel, Eimerbank, ein paar große Nägel im Balken für Arbeitskleidung sowie eine meterbreite Pritsche gleich hinter der Scheidewand. Die andere Zimmerhälfte mit großem Fenster diente uns vier als Wohn- und Schlafgemach: der 79jährigen Großmutter, der Mutter, dem Bruder und mir.

In der Küchenhälfte auf der Pritsche wohnten zwei estnische Burschen, die aus den etwa fünfzig Kilometer westwärts in den Bergen liegenden Goldminen geflohen waren. In diesen Quarzbergen drohte den Kumpeln ein schneller Tod durch Silikose, eine von eingeatmetem Quarzstaub verursachte Lungenkrankheit. Viele der rechtlosen Zwangsarbeiter, die nicht entkommen konnten, waren bereits der Silikose erlegen. Da die zwei Burschen keine Unterkunft hatten, kamen sie zu uns. Nämlich nach ungeschriebenem, aber feststehendem Deportiertengesetz durfte kein Landsmann je obdachlos bleiben; es galt, jedem Mitverschleppten immer Unterkunft und ein Stück Brot zu ermöglichen.

Ich war damals 21 Jahre alt, schuftete zu dieser Zeit ein paar Kilometer waldwärts bei einer Sägemühle als „Mehlmädchen“, das heißt, ich hatte aus dem Bunker unter den ununterbrochen sich in die Balken fressenden Sägen das Sägemehl herauszuholen, in einen riesigen Karren zu schaufeln und etwa hundert Meter weit auf einem schmalen Bretterpfad bis zum Rand des Mehlfeldes zu schaffen und umzukippen. Das Brett war vereist, das Rad schlenkerte und war schwer in der Balance zu halten. Der Karren, zugeschnitten auf die Ausmaße eines kräftigen Mannes – ich machte kaum die Hälfte davon aus –, war für sich allein schon schwer, die Karrengriffe standen so weit auseinander, daß meine Hände nur mit knapper Not ausreichten, beide zu fassen. Die ganze Chose war also unsicher und anstrengend. Für den Hin- und Rückweg brauchte man zudem so viel Zeit, daß dann der Bunker immer schon voll war und zum Verschnaufen keine Minute übrigblieb.

Den Fraß für die Sägen boten meist riesige Lärchenstämme, mitunter auch Zedern, die in den Rahmen nicht paßten und meist mit Äxten zurechtgehauen werden sollten. Die Leistungsnormen standen hoch.

Damit war der Alltag auch in der Weihnachtzeit 1950 ausgefüllt. Bereits ein paar Tage vor Heiligabend hatte ich vom unter meterhohem Schnee liegenden Berghang den schönsten Tannenbaum ausgewählt und heimlich im Dunklen herbeigeschleppt, denn willkürliches Baumfällen war strengstens verboten. Aus dem Kindergarten, wo ich bei Möglichkeit – ich war durch die Schichtarbeit stark eingespannt – die Liedchen und Tänze der Kleinen auf dem Klavier begleitete, schenkte man mir als Prämie einen Bogen Silberpapier, damals eine Rarität. Mit Großmutters Garnknollen entstanden dann sogar echte Weihnachtskugeln. Kerzen aus den Paketen von Freunden in Estland schufen zuletzt das Bild eines echten heimatlichen Weihnachtsbaums.

Alles Nötige war auf einmal da: Augenweide und feierliche Stimmung. Mutter hatte als Lohn für ihre Näh-, Stick- und Schreibarbeit Hackfleisch erhalten und bereitete ein Festmahl: gebratene Frikadellen mit Kartoffelbrei und Zwiebeltunke. Das Gemüse hatten wir aus dem eigenen Garten. Als nun all das Völkchen sich nach dem Feierabend eingefunden hatte, begann das Weihnachtsfest, fast so wie damals bei uns daheim.

Obwohl der Frost in den Balken knackte, war es drinnen diesmal warm geheizt. Zuerst der Gaumenschmaus – Fleisch war selten auf dem Tisch – dann Kerzenanzünden, Liedersingen, Erzählen, Erinnerungen, wieder die liebsten Weihnachtslieder, dazwischen auch etwas Vaterländisches: Gedenken unserer Lieben in anderen Lagern oder weit weg in der Heimat – Väter, Brüder, Verwandte. Die eigentliche Realität wich ins Ferne, die Heimat war hier ganz nah. Mein kleines Schifferklavier ersetzte Vaters Klavier und erzeugte Orgelklänge. Eine zauberhafte Stimmung, welche man nie mehr erhofft hatte, hierzulande zu erleben, erfüllte die schäbige Barackenstube. Der Zauber sollte nicht enden, es galt die Stunden festzuhalten, die man sein Leben lang nicht vergißt!

Es schwebte etwas Heiliges, ja Göttliches in dieser sibirischen Nacht. Sogar die Rückkehr nach Estland erschien in dieser Atmosphäre plötzlich nicht mehr unmöglich. Inmitten der trostlosen Eintönigkeit unseres Alltags – karge Kost, zehn- bis zwölfstündige überlastende Arbeitstage, oft monatelang ohne Ruhetag bei 20 bis 35 Grad Kälte – war diese traumhafte „Heimkehr“ erhebend, Hoffnungen erweckend und wohltuend, wollte kein Ende nehmen und hat sich hingezogen, bis es Zeit war, sich zur Arbeit zu rüsten.

Sonderbarerweise spürten wir keine Müdigkeit, für Schlafen war ohnehin später noch Zeit. Um 8 Uhr morgens mußte ich mich schließlich wieder an meinen Karren hängen. Ich entschloß mich, diese Schicht ohne Mittagspause abzuschuften, eine Stunde früher wegzukommen, um zu schlafen und am Abend weiterzufeiern. Am Vormittag sägte man meistens Zedernbalken, das bedeutet leichteres Mehl. Auch die Stimmung von gestern hallte in mir nach und gab mir Flügel. Noch eine Stunde ...

Da pflanzte sich plötzlich vor mir der Chef Pawlik auf: „Du, Mädel, geh jetzt nach Haus, iß was und komm um vier wieder her in die Nachtschicht. Die Marusja ist krank. Du wirst sie ersetzen!“ – Ich stand da wie versteinert. Mein Traum brach jählings zusammen. Widerspruch war ausgeschlossen, das hätte nur Krach und Strafe gebracht. Wir waren ja völlig rechtloses Gesindel, in erster Linie die Frauen und Mädchen. Nicht pünktliches Erscheinen bedeutete, 25 Prozent des ohnehin kärglichen Lohns zu verlieren und zur Arbeit zehn bis fünfzehn Kilometer weit in die Taiga geschickt zu werden.

Tränenschluckend machte ich kehrt. Der Frost nahm zu. Zu Hause reichte die Zeit nicht aus, die Filzstiefel zu trocknen, nur die „Partjankas“, Fußwickel, habe ich gewechselt. Nach einem rasch gelöffelten Teller Suppe brach ich wieder auf. Die vereiste Strecke zum Artell (Holzkombinat) erschien jetzt viel länger und holpriger als morgens. Dort schnarrten die Sägen bereits. Ihr monotones „Tschach-tschach“ war von weitem zu hören.

Es waren Lärchenstämme, der schwere Mehlhaufen wuchs an. Die Karrengriffe schienen immer weiter auseinanderzurücken. Ich weiß von diesem Abend und der Nacht nur noch, daß der Karren furchtbar schwer und abrutschfreudig war und die Kälte ständig zunahm, auf der Nase und den Wangen prickelte, und das Tuch vor dem Mund sich unter Rauhreif härtete. Mitsamt meiner Werkzeuge verwandelte ich mich förmlich zu einem Bestandteil der Sägemühle. Ich hob Mehl heraus, schaufelte, karrte, kippte aus, schob das Vehikel zurück zum Bunker.

Die Nacht war sternenklar, zu Abertausenden blinkten sie herunter vom blauschwarzen Himmel: Orion, Cassiopeia, der Jupiter. Alte bekannte Freunde aus der Heimat – Weihnachtssterne – Christus ist geboren, der Erlöser. Ich stampfe meine Strecke ab und singe immer wieder im Schrittrhythmus: „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit“, alle Strophen, immer wieder, in den Ohren die feierlichen Klänge vom Klavier meines Vaters.

Ich stapfe durch den sibirischen Schnee und bin doch zugleich weit entfernt von hier. Der Kopf ist benebelt, macht nicht mehr mit, allein die Seele. Da – auf einmal Stille! Kein „Tschach-tschach“! Die Sägen stocken! Was für wunderbare Leere in der Luft. Ich sinke auf der Stelle neben dem Karren erschöpft in den Schnee – o Seligkeit – und schlafe sofort ein, davor fliegt noch für einen kurzen Moment ein Vers der estnischen Dichterin Marie Under durchs Gemüt. In ihrem den einhundert finnischen Soldaten gewidmeten Gedicht, welche aus dem sowjetischen Winterkrieg von der Front in langen Märschen heimkehren und ermattet bei der Rast erfroren, heißt es „Hundert Mann (...) sie schlummern, sie schlummern im Schnee“.

Mich wecken irgendwann leichte Fußtritte in die Rippen und wütende, mit russischen Unflätigkeiten bereicherte Rufe: „Ganz verrückt, was? Du blöde Gans! Willst wohl hier im Frost verrecken?! Marsch an den Karren! Die Sägen gehen schon!“ Ich richte mich auf, konnte plötzlich wieder stehen und gehen, hörte das Scharren der teuflischen Maschine. Wie lang die Pause dauerte, wußte ich nicht. Allerdings war der Höllenrachen voll, und das Mehl preßte bereits durch die Öffnung hinauf. Es ging nun im Halbschlaf weiter. Um zwei Uhr nachts war schließlich Schluß.

Ich fühlte keinen Schmerz mehr in meinen erfrorenen Zehen in den feuchten Filzstiefeln. Zitternd vor Kälte in der ebenso feuchten Wattejacke stapfte ich in dieser Weihnachtsnacht im Sternenglanz den schillernden Weg heimwärts, stolpernd über das körnige Eis. Ein blinkender Stern strahlte hell wie ein kleiner Mond. Die Schönheit des bodenlosen sibirischen Himmels gibt der müden Seele Mut: Gottes Firmament reicht weit dahin bis zum Baltischen Meer.

 

Heli Susi lebt heute in Estland und ist mit ihrer Familie nach dem Zweiten Weltkrieg von dort nach Sibirien deportiert worden. Ihr Vater war nach dem Abzug der Wehrmacht 1944 für kurze Zeit Minister in der estnischen Zwischenregierung, die sich in verzweifelten Appellen an die Westalliierten wandte, um zumindest eine moralische Unterstützung gegen eine erneute Okkupation, diesmal der Sowjetunion, zu erhalten.

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