© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/12 - 01/13 / 21./28. Dezmber 2012

Zum Glück gezwungen
Mit der Konvention von Tauroggen vollzog sich vor 200 Jahren der Seitenwechsel Preußens: Die russisch-preußische Allianz läutete das Ende der Herrschaft Napoleons über Europa ein
Jürgen W. Schmidt

Als im Frühling 1812 Gerüchte vom bevorstehenden Rußlandfeldzug Kaiser Napoleons Preußen durchliefen, nahmen an die 300 patriotische Offiziere der auf 40.000 Mann zusammengestutzten preußischen Armee sogleich ihren Abschied. Sie reisten nach Rußland, um in dessen Armee gegen die verhaßten Franzosen zu kämpfen. Unter ihnen befand sich der Major Carl von Clausewitz, der spätere Militärtheoretiker.

Das Königreich Preußen hatte 1806/07 im Krieg gegen Frankreich verloren, zahlte riesige Kontributionen und verlor große Teile seines Territoriums. Als Vasall wider Willen mußte König Friedrich Wilhelm III. den Franzosen Waffenhilfe leisten und die Hälfte seiner Armee, 21.000 Mann, als Hilfskorps unter Generalleutnant Julius von Grawert zur „Grande Armee“ entsenden. Grawert hatte sich Napoleon wegen dessen frankophiler Einstellung ausbedungen und zugleich als dessen Stellvertreter den Generalmajor von Yorck verlangt.

Der aus kaschubischem Kleinadel stammende Ludwig von Yorck galt als knochenharter Troupier, „scharf wie gehacktes Eisen“. Er hatte bei der leichten Infanterie gedient und beherrschte exzellent die französische Taktik. Politisch war der Altpreuße Yorck extrem konservativ gesinnt und haßte daher, wie Napoleon gut wußte, jene sich um den Militärreformer General Gerhard von Scharnhorst scharenden frankreichfeindlichen Offiziere wie August von Gneisenau oder Clausewitz, die nach Yorcks Meinung die preußische Armee mit ihrem Tun noch völlig ruinieren würden.

Nach General Grawerts schwerer Erkrankung übernahm General Yorck das Kommando des preußischen Hilfskorps, welches am 28. Juni 1812 im Bestand der „Grande Armee“ die russische Grenze überschritt. Das Glück war hierbei gleich dreifach auf Seite Preußens. Einmal wurde Yorck mit seinen Soldaten dem linken, nördlichen Heeresflügel unter Marschall Jacques MacDonald zugeteilt. Macdonald galt im Gegensatz zu den meisten anderen französischen Marschällen als höflich-korrekter und vor allem gerechter Militär. Er und der charakterlich schwierige Yorck harmonierten deshalb während des ganzen Feldzugs gut miteinander.

Das zweite Glück bestand darin, daß Yorck und sein Hilfskorps nicht bei der Hauptarmee unter Napoleon eingesetzt wurden, sondern am linken Flügel im Baltikum. Preußische Truppen mußten deshalb die beidseits ungeheuer verlustreichen Schlachten von Smolensk und Borodino nicht mitkämpfen und wurden auch nicht in das Debakel der französischen Hauptarmee auf dem Rückzug von Moskau bis zum Übergang über die Beresina hineingerissen.

Drittens errang das preußische Hilfskorps unter der durchdachten Führung Yorcks öfter kleine Siege über die Russen, hatte dabei keine großen Verluste und erwarb sich zudem wertvolle militärische Erfahrungen. Im Dezember 1812 wurde Yorck ohne eigene Schuld in den französischen Rückzug hinein gerissen. Während Marschall Macdonald im nördlichen Ostpreußen noch die Stadt Tilsit erreichte, schnitt der kühne, im Dienstes des Zaren stehende kurländische General Johann Graf von Diebitsch die Straße von Tilsit nach der litauischen Stadt Tauroggen ab und trennte damit Yorck von Macdonald. Für einen konventionellen preußischen General gab es nun folgende zwei Optionen: Erstens, sich auf Teufel komm ’raus kämpfend durch die noch nicht allzu starken russischen Truppen in Richtung Tilsit zu Macdonald durchzuschlagen oder aber zweitens: Die angesichts der verfahrenen militärischen Situation entstandene Möglichkeit zu nutzen, unter günstigen Bedingungen vor den Russen zu kapitulieren und damit dem preußischen König zumindest das Leben von 20.000 Soldaten zu erhalten.

Aber es gab noch eine dritte Möglichkeit und diesen für ganz Europa unerwarteten Weg beschritt schließlich unter großen Bedenken und langen Gewissensqualen General Yorck. Und das nicht zuletzt deshalb, weil ihm auf russischer Seite als Unterhändler ausgerechnet einer von jenem ihm verhaßten „jakobinischen Natterngezücht“ der preußischen Militärreformer gegenübertrat, nämlich der nunmehrige russische Oberstleutnant Carl von Clausewitz. Von Clausewitz wirksam beraten, schlug am Weihnachtstage 1812 General Diebisch dem in Tauroggen befindlichen Yorck ein persönliches Treffen vor.

Bei jenem ersten Treffen von Yorck, Clausewitz und Diebisch erläuterte letzterer, er könne zwar zur Zeit den Durchbruch der Preußen hin zu den Franzosen nach Tilsit noch nicht verhindern, doch werde er ihnen im Falle des Durchbruchs schwere Verluste zufügen und alle Artillerie abnehmen. Andererseits erwähnte Diebitsch bei diesem in deutscher Sprache geführten Gespräch die Möglichkeit eines zeitweiligen Neutralitätspaktes, welchen die Russen den Preußen zugestehen könnten.

Letzteres war eine gewagte Idee von Clausewitz, die bei Yorck angesichts der in den nächsten Tagen sich verschlechternden militärischen Lage auf wachsendes Interesse stieß. Allerdings hatte diese an sich rein militärische Entscheidung eine gewichtige politische Komponente, sie deutete nämlich einen Seitenwechsel der Preußen gegen Frankreich an. Yorck versuchte durch eilig nach Berlin entsandte Kuriere eine Entscheidung des preußischen Königs zu erlangen.

Zwischen den russischen und preußischen Truppen pendelte Clausewitz unermüdlich als Parlamentär hin und her und versuchte Yorck zum Abschluß der Neutralitätskonvention zu veranlassen, welche der erste Schritt zu einem künftigen russisch-preußischen Militärbündnis gegen Frankreich sein sollte. Doch Yorck wollte die komplizierte Entscheidung über einen Bündniswechsel verständlicherweise nicht allein treffen und wartete angespannt auf eine königliche Entscheidung.

Schließlich setzte ihm Clausewitz am 29. Dezember 1812 die Pistole auf die Brust, indem er Yorck Einblick in einen geheimen russischen Armeebefehl gab, welcher den Befehl zum weiteren Vormarsch Richtung Ostpreußen in Verbindung mit Wiederaufnahme der Kampfhandlungen enthielt. Nachdem ihm Clausewitz ehrenwörtlich die Richtigkeit jenes Befehls versichert hatte, gab ihm General Yorck schwer atmend vor Erregung spontan die Hand und sagte „Ihr habt mich!“. Clausewitz kehrte zu den Russen zurück und fiel Diebitsch weinend wortlos um den Hals.

Am Morgen des 30. Dezember 1812 trafen sich die Generäle Yorck und Diebitsch in der heute nicht mehr existierenden Wassermühle des litauischen Dörfchens Poscherun, drei Kilometer von Tauroggen entfernt und unweit der Grenze zu Ostpreußen und schlossen hier die „Konvention von Tauroggen“ ab. Militärisch besagten die sieben Artikel jener Konvention nicht mehr, als daß das Armeekorps des Generals Yorck im nördlichen Ostpreußen eine neutrale Zone beziehen und bis zum 1. März 1813 nicht mehr gegen die Russen kämpfen werde. Praktisch kündigte die Konvention aber den bevorstehenden Seitenwechsel Preußens und den Beginn der Befreiungskämpfe gegen Napoleon an.

Alles das hatte Napoleon vorweg geahnt, als er Yorck insgeheim einen hohen Orden, eine jährliche Geldrente und sogar die Würde eines französischen Marschalls bot, falls er nur bündnis-treu bleibe. Doch Yorck erwies sich als unbestechlich. König Friedrich Wilhelm III. nahm jenen Schritt Yorcks anfangs mit größtem Unwillen auf. In den nächsten Wochen erkannte er aber den großen Nutzen der Handlungen Yorcks und sah, daß das preußische Volk jenen Schritt begrüßte und vom König nun die Kriegserklärung an Frankreich erwartete, die schließlich am 17. März 1813 auch erfolgte.

Yorck wußte genau, daß er wegen der Unterzeichnung der Konvention von Tauroggen mit seinem Kopf spielte und bei Mißlingen dem Todesurteil wegen „Insubordination“ nicht entgehen werde. Doch Sieger richtet man bekanntlich nicht und so ernannte ihn der König am 5. Mai 1821, zufällig der Todestag Napoleons, sogar zum Feldmarschall. Die Konvention von Tauroggen begründete eine lange Periode preußisch-russischer Freundschaft. In der DDR avancierte im Zeichen dieser Waffenbrüderschaft mit Rußland der „Yorcksche Marsch“ von Beethoven sogar zum offiziellen Präsentiermarsch der Nationalen Volksarmee.

Foto: Die Generale Ludwig von Yorck (r.) und Johann Graf von Diebtisch schließen die Konvention von Tauroggen ab; Schriftstück mit ihren Unterschriften: Den Preußen beschlichen große Bedenken und Gewissensqualen

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