© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/12 - 01/13 / 21./28. Dezmber 2012

Christi Geburt und Astronomie
Mehr als sentimentale Idylle
Felix Dirsch

Könnte es Weihnachten auch ohne christlichen Glauben geben? Die Frage ist nicht so abwegig, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. Die meisten Bewohner Europas dürften dieses Fest vor allem deshalb schätzen, weil es mit einigen arbeitsfreien Tagen verbunden ist. Darüber hinaus existieren größere gesellschaftliche Gruppen, die von der schon seit Jahrzehnten mehr und mehr zu beobachtenden Entleerung genuin christlicher Inhalte profitieren – nicht zuletzt Geschäftsleute aller Art werden sich wohl über die Umwandlung von der Vorbereitung auf das Kommen des Herrn zur hektischen Betriebsamkeit des Warenhortens freuen.

Weihnachten erfüllt als Familienfeier immer noch seinen Zweck. Manchmal richtet diese aber auch Schaden an, wenn etwa Angehörige länger als sonst Zeit miteinander verbringen und sich daher arrangieren müssen. Man denkt im Erwachsenenalter meist gern an die später häufig idealisierte Kindheit. Aber an die Ankunft Jesu? Spielt sie jenseits von nicht selten kitschigen Gebräuchen, Krippenritualen und Geschenkerummel eine Rolle?

So merkwürdig es auch klingen mag: Diese Geringschätzung des Geburtsereignisses Jesu teilt der heutige, mehr oder weniger agnostisch eingestellte Durchschnittszeitgenosse mit den frühen Christen, die Weihnachten nicht feierten. Erst im Kontext der Konstantinischen Wende im frühen vierten Jahrhundert entstand ein institutionalisiertes Gedenken an die Geburt des Erlösers. Der Sonntag, der ältere Sonnenkulte ersetzte und mit christlichen Inhalten verband, wurde staatlich sanktioniert. Im Fahrwasser dieser Veränderung etablierte sich mehr und mehr das Christfest als Ausfluß der damals bei Heiden und Christen verbreiteten Sonnenfrömmigkeit.

Selbst in vielen theologischen Traktaten gelten die Weihnachtsüberlieferungen der Bibel als bloß legendarisch-fromme Geschichten. Und in der Tat gibt es für eine solche Meinung durchaus etliche Hinweise. Es existieren unterschiedliche Details bei den Evangelisten Lukas und Matthäus. Lukas kennt „die“ Krippe. Im Bericht des Matthäus hingegen ist keine Ortsangabe vermerkt. Der eine erzählt von Engeln, der andere vergißt sie vollständig. Vergleicht man die Schilderungen, etwa über den herodianischen Kindermord oder über die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten, fallen eher die Verschiedenheiten als die Gemeinsamkeiten ins Auge. Auch die Frage nach der Datierung wird keinesfalls einheitlich beantwortet. Quirinus wird erst Statthalter, als Herodes längst tot ist. Eine der entsprechenden Angaben ist also nicht korrekt.

Für die Kindheitsgeschichte Jesu gilt, was auch für andere Teile der Bibel zutrifft: Es handelt sich nicht um Versuche, im Sinne der aufklärerischen Geschichtstheorie etwas niederzuschreiben, was gewesen ist. Genaue Chronologien in einem solchen Verständnis wären den biblischen Schriftstellern überflüssig erschienen. Es geht ihnen darum, den Messias zu verkünden. Bloße Tatsachendarlegung hätte dieses für sie so einzigartige Ereignis zum rein Profanen degradiert.

Außer Spesen nichts gewesen? So könnte der auf Faktizität getrimmte moderne Mensch – behalten wir diese Realfiktion einen Augenblick bei – prima vista meinen. Freilich können selbst mythisch gefärbte Stellungnahmen, wie sie sich in der Heiligen Schrift öfter finden, einen Wahrheitsgehalt aufweisen, worauf in den letzten Jahrzehnten erfolgreiche Buchautoren, etwa Eugen Drewermann und Kurt Hübner, hingewiesen haben. Ungeachtet dessen liegen aber auch Zugänge über die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise vor. Nehmen wir einen nicht unwichtigen Ausschnitt aus der Geburtsgeschichte: den berühmten Stern von Bethlehem.

Kepler bestätigte die Berechnungen der Astronomen aus Mesopotamien, ohne von diesen zu wissen: Beim Stern von Bethlehem handelte es sich um eine Konjunktion von Jupiter, dem Königsplaneten, und Saturn, dem Zeichen für das Land am Meer, für Israel.

Handelt es sich um etwas astronomisch Beschreibbares? Sich dem Stern auf diese Weise anzunähern, ist eine unglaublich spannende Angelegenheit. Man könnte darin ein weiteres Kapitel der umfangreichen Story „Und die Bibel hat doch recht“ sehen. Doch der Reihe nach. In den 1920er Jahren finden Archäologen Keilschrifttafeln aus Mesopotamien, dem heutigen Irak. Sie enthalten Fragmente über astronomische Befunde, angefertigt von babylonischen Gelehrten lange vor unserer Zeitrechnung. Die Aufzeichnungen belegen, daß Astrologen aus dieser Region, die die damaligen Astronomen sind, über eine Planetenkonstellation im Westen (aus ihrer Sicht) nachdenken, die gegeben sein muß, wenn ein neuer König geboren wird. Aus den Relikten wird deutlich, daß diese Gelehrten aus astronomischen Planetenkonjunktionen astrologische Schlüsse ziehen. Jupiter, heute als der größte Planet des Sonnensystems bekannt, gilt als Königsplanet, Saturn hingegen als Zeichen für das „Land am Meer“, für Israel. Wenn sich nun diese beiden Himmelskörper im Zeichen des Fisches (ein Hinweis auf das „Westland“) nähern, so ist den babylonischen Berechnungen zufolge ein neuer König geboren. Es ist bedenkenswert, daß sich diese Verbindung Monate vorher ankündigt. Die Weisen aus dem Morgenland besitzen also die nötige Zeit, aufzubrechen und das Ereignis in der Hauptstadt Israels direkt zu beobachten.

Frühneuzeitliche Wissenschaftler wie Johannes Kepler nehmen gleichfalls derartige Berechnungen vor und kommen zu ähnlichen Ergebnissen wie ihre östlichen Vorläufer, ohne von ihnen zu wissen. Danach sind Anfang Dezember des Jahres sechs vor unserer Zeitrechnung die Planeten Saturn und Jupiter, wenn man in Jerusalem weilt, nahe beieinander im Süden zu sehen, und in dieser Himmelsrichtung liegt bekanntlich Bethlehem. Wie bahnbrechend Keplers diesbezügliche Berechnungen zu bewerten sind, zeigt ein Beitrag des Astronomen Hans-Ulrich Keller in den Katechetischen Blättern des Jahres 1998: „Immer wieder tauchen andere Erklärungsversuche auf. Aber die astronomischen und historischen Fakten lassen Keplers Idee am schlüssigsten erscheinen.“

Naturgemäß gibt es über solche Befunde viel Streit. Ein naheliegender Einwand besteht darin, daß sich die beiden erwähnten Planeten nie so angenähert haben dürften, daß sie kaum unterscheidbar sind – denn die biblischen Erzählungen kennen nur einen Stern. Der Münchner Physiker Harald Lesch verweist aber in diesem Zusammenhang auf die Unklarheit der damaligen Witterungsbedingungen. Unter Umständen seien beide Sterne als einer zu erkennen gewesen.

Weiterhin liegt ein anderer Kritikpunkt auf der Hand: Der Evangelist will sich nicht als bloßer Deuter von Himmelsphänomenen betätigen. Daher schreibt er, der Stern sei den Magiern von Norden nach Süden vorangezogen, um ihnen den Weg zu weisen. Der später als Matthäus bezeichnete Autor bemüht sich zu zeigen, was ein solches beeindruckendes Schauspiel am Firmament, an das sich noch Jahrzehnte später viele Zeitzeugen (und sei es auch nur mündlich überliefert) erinnern können, mit dem als Messias Verehrten zu tun hat. Für manche Leser seiner Schrift dürfte damit ein Aha-Erlebnis verbunden sein. Damals ist das also gewesen! Die Lichtverschmutzung, die heute die Sichtverhältnisse trübt, ist vor rund 2.000 Jahren nicht vorhanden. Das historische Erinnerungsvermögen verbürgt die Richtigkeit der Angaben. Immerhin ist die Gedächtnisleistung in fast ausschließlich oralen Kulturen im Regelfall besser als in der gegenwärtigen Zeit der überall gegenwärtigen Wissensüberflutung und „digitalen Demenz“ (Manfred Spitzer).

Obwohl es unsinnig wäre, zur Gänze die Maßstäbe des wissenschaftlichen Zeitalters an die Evangelien anzulegen, ist es gleichwohl möglich, manche Tatsachen und Sachverhalte auch mit wissenschaftlich-aufgeklärten Mitteln zu verifizieren.

Bis heute tobt der Streit zwischen den Befürwortern der astronomischen Lösung und solchen, die von eher symbolischen Anspielungen ausgehen. Schon vor fast einem Jahrhundert verweist der Altphilologe Franz Boll darauf, daß die Darstellung bei Matthäus auf die „volkstümliche Vorstellung von dem besonderen Verhältnis zwischen Einzelmensch und Einzelstern“ rekurriere, wie es bei Plinius bezeugt sei. Viele Veröffentlichungen äußern sich zu dieser Kontroverse. Noch Mitte der 1990er Jahre erscheint eine interessante Abhandlung, verfaßt von Konradin Ferrari d’Occhieppo, über den „Stern von Bethlehem in astronomischer Sicht“. Diese Studie belegt akribisch unter Zuhilfenahme verschiedener Zweige der Wissenschaft, besonders aus Astronomie und Philologie, die objektive Prüfbarkeit der Magierperikope: Die Weisen haben demnach das Stehenbleiben des Sterns über Bethlehem als sichtbares, für sie wunderbares Ereignis wirklich erlebt.

Diesem Gelehrten zufolge sind die Bedenken vieler moderner Bibelwissenschaftler in diesem Punkt kaum nachvollziehbar. So wird von ihnen beispielsweise behauptet, eine astronomische Interpretation des Sterns berge die Gefahr in sich, die Astrologie aufzuwerten. Das ist nicht der Fall, wenngleich Matthäus mehrmals ein weltanschauliches Plädoyer dafür liefert, daß die Astrologie für ihn eine legitime Erkenntnismöglichkeit bedeutet.

Die Geburt Jesu als historisches Ereignis ermöglicht im nachhinein die Annahme einer linearen Zeitrechnung und ist damit kulturgeschichtlich in höchster Weise bedeutsam. Unter Berücksichtigung etlicher Vorläufer erwerben sich dabei besonders Augustinus und die etwas jüngeren Mönche Dionysius Exiguus und Beda Venerabilis kulturgeschichtlich hohe Verdienste, indem sie das antik-zyklische Denken als unhaltbar zurückweisen.

Diese Denker verbinden die Schöpfung der Welt, die Geburt des Heilands und die erwartete Wiederkunft des Auferstandenen als Zeitpunkte miteinander. Die Konsequenzen sind unabsehbar. Erst durch diesen Einschnitt wird politisches Handeln im eigentlichen Sinn rechenschaftspflichtig. Die Abkehr von der „Wiederkehr des Gleichen“ (Friedrich Nietzsche) ermöglicht die Geburt des theologisch fundierten Geschichtsdenkens. Dieses mutiert in der Neuzeit schrittweise zur säkularisierten Geschichtsphilosophie.

Ein längst klassischer philosophischer Text des 20. Jahrhunderts, Karl Löwiths „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“, verdeutlicht, wie sehr Augustinus und seine Erben die neuzeitliche Geistesgeschichte im guten (Demokratie!) wie im schlechten (siehe die totalitären Doktrinen vom klassenlosen „Reich der Freiheit“ wie vom Tausendjährigen Reich!) beeinflussen.

Festgehalten werden kann Folgendes: Es wäre unsinnig, in den Trugschluß zu verfallen, man könne in toto die Maßstäbe des wissenschaftlichen Zeitalters an weit frühere Epochen anlegen. Der Mensch vor zwei Jahrtausenden lebte noch weithin in Weltbildern, die man als mythisch charakterisieren kann, wie es der Neutestamentler Rudolf Bultmann in seinen grundlegenden Schriften über Entmythologisierung Mitte des letzten Jahrhunderts tut. Das schließt freilich keineswegs aus, daß an manchen Stellen Tatsachen – in diesem Fall astronomischen – eine größere Bedeutung eingeräumt wird, als es ansonsten üblich ist. Derartige Sachverhalte sind durchaus mit wissenschaftlich-aufgeklärten Mitteln verifizierbar. Die Überlieferungen des Christfestes sind keine legendär-substanzlosen Geschichten, wie jüngst manche Glaubensverächter aus den Reihen des „Neuen Atheismus“ meinen.

 

Dr. Felix Dirsch, Jahrgang 1967, Politikwissenschaftler, ist im Schul- und Hochschuldienst sowie in der Erwachsenenbildung tätig. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über das Deutsche in der bildenden Kunst („Identität im Zweifel“, JF 44/12).

Foto: „Drei Kön’ge wandern aus Morgenland / ein Sternlein führt sie zum Jordanstrand. / In Juda fragen und forschen die drei, /  wo der neugeborene König sei“: Beeindruckendes Schauspiel am Firmament, an das sich noch Jahrzehnte später viele Zeitzeugen erinnern konnten

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