© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/12 - 01/13 / 21./28. Dezmber 2012

In Terror verschlungen
Literatur: Späte Erstübersetzung des Debütromans von Réjean Ducharme
Sebastian Hennig

Fünfundzwanzig Jahre alt war Réjean Ducharme, als er 1966 mit seinem Roman „L’avalée des avalés“ den Autorenwettbewerb von Radio Canada gewann und das Buch gleich darauf für den Prix Goncourt nominiert wurde. Fortan zog er sich von der Öffentlichkeit zurück, schrieb unausgesetzt weiter, malte und bildhauerte zudem. Während gut die Hälfte seiner neun Romane ins Englische übersetzt wurden, erreichte das deutsche Publikum bislang nur ein verborgener Hinweis auf seinen Erstling im Kinofilm „Léolo“.

In einer deutschen Anthologie über Literatur aus Quebec, die im Heidelberger Wunderhorn Verlag erschien, läßt er sich über „Das Einzweideutige“ seiner Heimatgefühle vernehmen. Dabei klingt er wie ein frankokanadischer Céline: „In Kanada ist nur noch der Botschafter des Planeten Mars kein Amerikaner. Mit Gier und mit dem Auto, damit es schneller geht, kauft und verkauft sich hier auf der Erde jetzt alles. Sie sagen, es gäbe zwanzig Millionen Kanadier. Wo leben die? Wohin sind sie entschwunden? Wo sind sie alle? Es gibt keinen einzigen Kanadier in Kanada. Wo sind die zwanzig Millionen Kanadier? Wo sind wir? ...Wer hat hier den Mut, den von den Pepsi-Verkäufern bezahlten Sängern eine in die Fresse zu hauen, die nichts anderes singen, als daß wir von der Pepsi-Generation sind?“

Nach dieser Abkanzelung amerikanischer Kulturlosigkeit nimmt er sich französische Überkultivierung vor: „Ich hasse diese Möchtegernfranzosen, diese Pyro-Manischen, die sich schämen, an diesen Küsten geboren zu sein, die lieber an ihnen gelandet wären, die bedauern, nicht eher gestrandet zu sein. Meine Zuhörer finden, daß ich eine grobe Sprache gebrauche, daß ich schlecht Französisch spreche. Bin ich Franzose? Bin ich in Paris geboren? Ich bin kein Franzose. Zudem will ich kein Franzose sein: das ist zu anstrengend, man muß zu intelligent sein, man muß zu höflich und zu guter Kenner der Daten der Weine sein, man muß zuviel reden, um nichts zu sagen, man muß sich zu sehr für besser als die anderen halten.“ Warum Ducharme sich zurückgezogen hat, machen solche Äußerungen überdeutlich.

Mit dem Titel „Von Verschlungenen verschlungen“ ist das Werk nun in einer deutschen Übertragung durch Till Bardoux im Schweizer Verlag Traversion erschienen. Die zehnjährige Erzählerin Bérénice Einberg bewohnt mit ihren Eltern und dem Bruder Christian eine verlassene Abtei auf einer Insel im Sankt-Lorenz-Strom, von deren Wachttürmen einst die Nonnen auf die Indianer geschossen haben. Nun ist das Gemäuer mit einer Zwischendecke für Wohnzwecke eingerichtet, und die Eisenbahn donnert davor entlang.

Die Stätte wird nicht mehr von außen bedroht, sondern verheert vom Unfrieden ihrer Bewohner. Unter wechselseitiger Vereinnahmung der Kinder zielen die Eltern feindselig aufeinander. Von ihrem Vater wird die Tochter jüdisch erzogen, während Christian von der schönen Mutter, „der toten Katze“, katholisch beeinflußt wird. Der robuste Junge vermag sich zwischen diesen Kräften einigermaßen im Gleichgewicht erhalten, die Mädchenseele dagegen wird niederträchtig und heimtückisch. „Das Leben spielt sich nicht auf der Erde ab, sondern in meinem Kopf. Das Leben ist in meinem Kopf, und mein Kopf ist im Leben. Ich bin umfangen und umfangend. Ich bin die vom Verschlungenen Verschlungene.“

Jedes der beiden Kinder versucht auf seine Art, vom Bankrott der Erwachsenen zu profitieren. Doch die Erosion der kleinen Gesellschaft führt sie über die Vereinzelung in Abstumpfung bis zum Terror. Die Familienbande verwandeln sich in bis aufs Blut einschneidende Fesseln. Am Anfang aller nihilistischen Eskapaden steht immer der Rückzug des Herrschers. Wenn die Doppelspitze der Eltern sich zerfleischend widereinander kehrt, beginnen bald die ungezogenen oder verzogenen Zöglinge die Zähnchen zu fletschen.

Man darf das Buch und seinen Autor nicht entgelten lassen, was sie schildern. Die Sprache ist eindringlich und suggestiv. Die Wortspiele und Neuprägungen des Originals werden vom Deutsch des Übersetzers aufgesogen. Die Handlung teilt sich mit durch die subjektive Reflexion von Bérénice und folgt eigentlich keinem Verlauf, sondern bleibt an den Zustand der Erzählerin gebunden mit einigen wenigen Verdichtungen. Die unelegante mißgeschickliche Bérénice guckt wie aus einer Schießscharte in die Welt. „Mit der Vernunft kam der Stolz, der mich die bittere Leere hassen ließ, die sich in der Seele breitmacht, damit man liebt.“

Dennoch fällt ihr Blick nicht nur auf Verächtliches. Zwischen den hochfahrenden Bekenntnissen des Selbstschutzes entstehen immer wieder auch erhabene Bilder. Das sind vor allem weiträumige Naturschilderungen, wenn die Geschwister auf faunistischen Erkundungen die Insel durchstreifen, über der zugefrorenen Fahrrinne Schlittschuh laufen oder das Anbrennen der Grasflächen miterleben. Das Niederkämpfen jeder Zuneigung, die Emanzipation von Gefühlen wie Glück und Trauer wird zum Leitsatz des Mädchens: „Man muß die Dinge und die Personen anders nehmen als sie sind, um nicht verschlungen zu werden. Um nicht zu leiden, dürfen wir in dem, was wir anschauen, nur das sehen, was uns davon freimachen könnte.“ Die letzte vertrauliche Mitteilung an den Leser beinhaltet das Eingeständnis einer Bestialität von hohen Graden, die von der restlichen Welt als Heldengeschichte angenommen wird.

Es handelt sich nicht um ein programmatisches Werk über den Aufstand einer Generation, sondern um ein hoch artifizielles Sprachkunstwerk, das eine Katharsis des kindlich pubertierenden Sadismus darstellt. Wie Goethe im Werther durch ein Außer-sich-Stellen dessen, was ihn zu vernichten drohte, sein Leben wiedergewann, so mag es dem jungen Ducharme mit seinem Roman gegangen sein. Als es vollbracht war, verspürte er kein Bedürfnis, sich jenseits der Literatur weiter darüber auszusprechen.

Réjean Ducharme: Von Verschlungenen verschlungen. Roman. Traversion, Deitingen 2012, gebunden, 320 Seiten, 19 Euro

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