© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/12 - 01/13 / 21./28. Dezmber 2012

Der Geist der Stille
Jenseits von Einsamkeit: In der wahrhaft „Stillen Nacht“ werden Welt und Mensch eins
Günter Zehm

Weihnachten, die „Weihe-Nacht“ vom 24. zum 25. Dezember, der „Heilige Abend“, wird vielerorts auch als „Stille Nacht“ bezeichnet und just als solche hoch gepriesen und ktäftig gefeiert. Das ist an sich merkwürdig und hinterfragbar. denn die Nacht von Christi Geburt ist bekanntlich alles andere als still, sie ist wahrscheinlich sogar – zumindest im Abendland – eine der lautesten Nächte des Jahres überhaupt. Chöre brausen, Glocken schallen, es herrscht ein fröhliches Tuten und Sich-Besuchen, eine Wuseligkeit des Schenkens und Beschenktwerdens, die dem Geist der wahren Stille so fern wie nur möglich ist.

Gibt es ihn überhaupt, den Geist der wahren Stille? Wenn damit die absolute Stille gemeint sein soll, dann lautet die Antwort eindeutig: Nein. Wer ein Gehör hat, der hört auch. Noch im gegen alle Außeneinflüsse sorgfältigst abgeschirmten „Lärmvakuum- Raum“ des Pariser Technikmuseums La Vilette dröhnt es: Der Besucher vernimmt plötzlich überlaut das Pulsieren des eigenen Blutes. Und auch das Ohr selber bringt Geräusche hervor. Es finden sich dort eine Reihe von Mechanismen zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts, die eigene Schwingungen erzeugen. Wenn die feinen Härchen der sensorischen Zellen von diesen Schwingungen getroffen werden, ziehen sie sich mit Hilfe bestimmter Proteine zusammen und erzeugen Akustik, auch im Lärmvakuum.

Stille ist ein relativer Begriff. Es gibt Geräusche, darunter sehr laute, an die wir uns derart gewöhnen, daß wir sie gar nicht mehr wahrnehmen, etwa das Rollen der vor unserem Fenster vorbeifahrenden S-Bahn. Bleiben sie einmal aus, dann „hören wir die Stille“, das heißt die vielen feineren, aber ungewohnten Klänge und Töne, die uns ständig umgeben. Das hat einst auch der US-amerikanische Komponist und Künstler John Cage gewußt und forderte deshalb die Zuhörer seines originellen, 1952 uraufgeführten Stücks „4‘33“, in dem kein einziger Ton gespielt wird, dazu auf, nicht nur „in die Stille hineinzulauschen“ sondern auch „aus der Stille herauszulauschen“.

Die Welt insgesamt ist voll von Geräuschen, und es werden ihrer immer mehr, je weiter die Moderne mir Technik und omnipräsenter Medialität voranschreitet. Die Entwicklung hat tatsächlich bedrohliche Züge angenommen, und immer mehr Zeitgenossen leiden darunter. Zum Straßenlärm kam der Fluglärm, zum Baulärm das Rattern der „Freizeitmaschinen“: keine einst „stille“, vornehme Wohngegend mehr, in der nicht, je nach Jahreszeit, ratternde Rasenmäher oder heulende Laubeinsammler ganze Tage lang die Luft zerschneiden. Und aus Radio und Fernsehen ertönt ununterbrochen „Eventlärm“: vor allem die großen Popkonzerte sind wahre Lärmorgien.

Allenthalben wächst die Sehnsucht nach Stille, und zwar im Quadrat der Lärmentfaltung. Nach Meinung der Unesco ist der Lärm bereits weltweit zu einem der schlimmsten Unweltverschmutzer aufgestiegen; der 6. April wurde von ihr zum „Tag gegen den Lärm“ ausgerufen und die Bürger zum Widerstand aufgefordert. Aber auch hier gilt, genau wie bei der Stille: Lärm ist nicht gleich Lärm, Flugzeuglärm beispielsweise läßt sich nicht gegen Kinderlärm aufrechnen. Nicht jedes laute und lästige Geräusch ist schon Lärm, dem üblichen Wortgebrauch zum Trotz.

Es gibt hierzulande eine DIN (Deutsche Industrienorm) für „Lärm“: Er beginnt normalerweise bei 90 Dezibel, kann allerdings bei entsprechendem „Schalldruckpegel“, zum Beispiel Dauerhämmern, erheblich früher verderbliche Wirkung entfalten. Der Mensch hält einen hohen Pegel durchschnittlich nicht länger als 20 Minuten aus, ohne physisch wie psychisch Schaden zu nehmen. Manche Leute fallen aber schon bei 85 Dezibel in Ohnmacht, andere halten selbst bei 200 und mehr die zwanzig Minuten durch.

Mittlerweile gibt es auch einen veritablen „Gesundheitslärm“. Wer als Patient einer Kernspintomographie im Kopf- und Halsbereich unterzogen wird, wo also in Kopf und Hals Magnetfelder aufgebaut und wieder abgebaut werden und dabei sämtliche Körperatome ins Wackeln kommen – nie wieder wird er einer solchen Fülle in alle Richtungen variierenden Lärms begegnen. Es schreit und kreischt und donnert und jault, es hämmert und kratzt, haut auf Pauken und liefert tollste Trommelwirbel, es schmettert und quietscht, explodiert und orgelt, und zwar mit einer gewaltigen Lautstärke. Gottlob dauert alles nur wenige Minuten, es ist zu ertragen und dient der Gesundheit.

Allgemein gilt wohl: Was wir in Wirklichkeit immer weniger ertragen, ist nicht der Lärm, schon gar nicht der Gesundheitslärm, sondern – die Stille. Der Lärm ist weithin zur Droge geworden; viele Menschen können ohne bestimmte Geräuschkulissen nicht einmal mehr schlafen. Witwen und andere Alleinstehende empfinden ein Grauen vor dem Nachhausekommen in die leere, allzu stille Wohnung. Der Großteil der Anrufe bei der Telefonfürsorge besteht aus solchen Menschen, die spät nachmittags, unmittelbar nach Ende des Arbeitstags, in die drückende Stille ihrer Einsamkeit zurückkehren und nichts mit sich anzufangen wissen.

Wir müssen das Aushalten und Ausnutzen der Stille regelrecht lernen, müssen es trainieren. Die Japaner, deren zen-buddhistische Tradition fast gänzlich auf Stille-Training beruht, sind uns da weit voraus. eine ganze neue Wissenschaftsdisziplin, die „Psycholinguistik des Schweigens“ ist dort entwickelt worden Denn Stille ist eben nicht nur, und nicht einmal in erster Linie, Ausstieg aus der zwischenmenschlichen Kommunikation, sie ist im Gegenteil – in Form des „beredten“ Schweigens – ein erstrangiges Instrument der Kommunikation, dessen Möglichkeiten und Fähigkeiten endlich genau erkundet und geordnet werden müssen.

Der französische Schriftsteller und Zen-Meister Marc de Smedt hat einmal aufgelistet, wie viele Formen des beredten Schweigens es gibt. Er fand kein Ende. Man kann zustimmend schweigen oder ablehnend, man kann schmollend schweigen, bedeutsam, fassungslos, verschämt, diskret, verwirrt, haßvoll, heiter, lastend, gar tödlich. Viele wichtige Sozialpraktiken beruhen auf der Stille und dem Schweigen, so etwa die Diskretions- und Schweigepflicht bei Beichtvätern, Ärzten, Rechtsanwälten, Diplomaten. Es gibt das planvolle Tötschweigen von Gegnern oder Konkurrenten, es gibt das genaue Dosieren von Pausen und Fermaten.

Außerordentlich wichtig auch die Rolle des Schweigens in der Literatur. Die japanischen Haiku-Gedichte, tief vom Zen-Buddhismus geprägt, setzen sich alle aus einer (knappen) sprechenden und einer (unendlichen) schweigenden Dimension zusammen. Die Funktion von seh- und sprechbaren Texten besteht einzig darin, ein großes, ahnendes Schweigen zum Schwingen zu bringen, und man darf sich getrost fragen, ob das nicht die Funktion eines jeden Literaturtextes ist, auch außerhalb Japans, auch im Westen. Niemand anders als Jean-Paul Sartre hat das seinerzeit in seinem Buch „Die Wörter“ auf den Punkt gebracht. Das, was man „Stil“ nenne, so schrieb er, sei immer das Ende der Diskussion, das Stillstellen des Diskurses, und somit sei die befriedigte Stille das imaginäre und geheime Ziel eines jeden Wortes.

Die Pointe dabei aber: So, wie das Wort in die Stille führt, so führt die Stille auch zurück in das Wort. Es kommt ja nicht von ungefähr, daß sich schöpferische Geister, wenn sie ein großes Werk beginnen wollen, stets zunächst einmal in die Stille zurückziehen, um Kraft zu tanken und die Gelassenheit des Anfangs zu gewinnen. Alle großen geistigen Taten stammen aus der Stille, sie ist das Kindbett jeglicher schöpferischer Inspiration, weil in ihr das Zufallsgeplapper ausgeschaltet wird und pure Notwendigkeit herrscht. Die wichtigsten Dinge bereiten sich in der Stille vor.

Deshalb hat es für die Christen tatsächlich seinen guten, vertretbaren Sinn, wenn sie die Nacht von Christi Geburt als „Stille Nacht“ verstehen. All die Lautheit, das Besuchen und Schenken, die Feierabend-Ausgelassenheit der Hirten wie der feierliche Auftritt der drei Könige, all die Chöre und Glockenklänge – sie führen, nicht anders als die Sartreschen Wörter, geradenwegs in die Stille, freilich in eine ungeheure Stille, in der nichts mehr von Einsamkeit und Verlorenheit ist, auch nichts von der letztlich egoistischen Selbstversenkung des Buddhisten, welcher lediglich auf sein nur ihm gehöriges „Satori“ wartet und dem darüber die Welt gleichgültig wird.

In der wahrhaft Stillen Nacht hingegen werden Welt und Mensch eins, zumindest in der Sicht der Christen. Schon der alttestamentarische Psalter hat das gewußt: „Ein Tag sagt es dem andern, / eine Nacht tut es der andern kund, / ohne Worte und Reden, / doch ihre Botschaft geht bis zu den Enden der Erde“ (Psalm 19, 3-5).

Foto: Familie in der Weihnachtszeit: Chöre brausen, Glocken schallen, es herrscht eine Wuseligkeit des Schenkens und Beschenktwerdens

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