© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/12 07. Dezmber 2012

Der Flaneur
Im Warten auf meine Frau
Josef Gottfried

Der Hausmeisterdienst hat die Papiertonnen rechtzeitig vor die Tür gestellt, am Vorabend schon, morgen können die städtischen Entsorger unsere alten Zeitungen, Zeitschriften und Taschenbücher mitnehmen. Diese ganzen Texte, dieses Wissen, diese Irrtümer und diese vielen Gedanken, die irgendwo an irgendwelchen Schreibtischen fabriziert wurden, kommen dann weg. Endgültig. Ich spüre den Impuls, sie aufzubewahren, schlimmer noch, die Tonne zu öffnen und doch noch die eine oder andere Ausgabe zu retten, weil ich sie später nochmal lesen möchte. Vielleicht würde ich es sogar tun, wenn die Tonne nicht schon gut sichtbar an der Straße stünde. So sitze ich auf dem kalten Treppenaufgang, ignoriere die Angst vor Hämorrhoiden und warte auf meine Frau, weil ich den Schlüssel vergessen habe.

Es ist schon dunkel, die Laternen sind an, und im Schein einer von ihnen sehe ich einen älteren Kerl zu unserer Papiertonne schlurfen, hinter sich einen Trolley – oder „Hackenporsche“. Er ist offensichtlich arm, kein versoffener Penner, das Wort „Clochard“ würde ihn treffend beschreiben. Er öffnet die Tonne, entnimmt ihr einen Stapel Zeitungen und verstaut sie in seinem Wägelchen. „Guten Abend“, sage ich laut, er erschrickt und schaut zu mir rüber. Er macht Ansätze sich zu rechtfertigen, doch ich winke ab und sage so freundlich wie’s geht, daß er das Papier ruhig nehmen könne. Was er denn damit anfangen will, frage ich. „Für den Wertstoffsammler“, antwortet er und erklärt mir den Weg dorthin. Pro Kilo bekomme er acht Cent. Immerhin. Dann lacht er: „Da hat man schnell ein Bier zusammen!“ – „Na dann mal frohes Schaffen“, antworte ich, weil mir nichts Besseres einfällt. „Ja“, sagt er, und macht sich von dannen.

Ich hole mein Handy raus und wähle die Nummer meiner Liebsten, um zu fragen, wo sie denn bleibt.

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