© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/12 07. Dezmber 2012

Höhenflüge und Abgründe
Apologie der Leidenschaften: Ausstellung im Dresdner Hygiene-Museum
Paul Leonhard

Schock. Hinter dem schwarzen Vorhang lauert ein lebensgroßes Krokodil. Ein Monster mit aufgerissenem Maul und spitzen Zähnen. Aber seltsam, es schwebt über einem von Stühlen gesäumten Eßtisch. Erleichterung. Kuratorin Catherine Nichols beobachtete lächelnd die Reaktionen der Besucher und ist bei ihrem Thema, den Leidenschaften. Ist es denn nicht so, daß diese uns wie Bestien überfallen und unsere animalische Seite nach außen kehren?

Das Dresdner Museum vom Menschen hat den Leidenschaften eine Ausstellung gewidmet, und wir befinden uns mitten im ersten Akt eines Dramas. Ein großes Theater der menschlichen Sehnsüchte und Abgründe hat die seit 1993 in Berlin lebende Australierin im Auftrag des Deutschen Hygiene-Museums Dresden unter dem Titel „Die Leidenschaften. Ein Drama in fünf Akten“ entworfen und gemeinsam mit der französisch-iranischen Opernregisseurin Mariame Clément und der deutschen Bühnenbildnerin Julia Hansen umgesetzt. Den Besucher erwarten unendliche Konflikte mit starken Gefühlen, Höhenflüge und furchtbare Abgründe sowie mehr als 400 Exponate, die ebenfalls Leidenschaften und ihre Bändigung zum Thema haben.

Die Leidenschaften sind Antrieb und Störenfried. Sie gelten als größte Gefahr für die sittlichen Werte. Und ihre Beherrschung ist seit der Antike das Ziel der menschlichen Kultivierung. Kann man aber stark ausgeprägte Emotionen, die sich von der Begeisterung bis zur Hörigkeit steigern können, in eine Ausstellung bannen? Reichen züchtige Hochzeitsbilder, neckische Nacktfotos und Videosequenzen von Küssen aller Art, um eine Schau über Emotionen interessant und anziehend zu machen? Und sind Leidenschaften nicht eine private Angelegenheit, die in der Öffentlichkeit nichts zu suchen hat? Nach zwei Wochen intensiven Studiums der Bild-Zeitung konnte Catherine Nichols zumindest diese Frage verneinen: „Leidenschaften sind etwas Öffentliches.“ Und sie sind nicht nur die Triebkräfte von Soap-Operas, sondern auch jener großen Tragödien, die die Weltgeschichte beeinflussen.

Elf Leidenschaften stellt Nichols in den Mittelpunkt der Ausstellung: Liebe, Begierde, Freude, Staunen als positive sowie Haß, Zorn, Angst, Scham, Trauer, Neid und Ekel als negative. Auf 800 Quadratmetern, in fünf Räume eingeteilt, treten die Leidenschaften als Hauptfiguren auf. Der Besucher spaziert durch ein in der Grundausstattung gleiches, sich aber von Akt zu Akt wandelndes Bühnenbild. Die Australierin spricht von einem sich wandelnden „Gefühlshaushalt“.

In einer gemütlich eingerichteten bürgerlichen Wohnung mit Eß-, Wohn-, Schlafzimmer, Küche und Bad spielt der erste Akt „Ein weites Feld“. Der Gast ist eingeladen, sich umzusehen, sogar einen Blick in offene Schränke und Schubladen zu werfen. Noch scheinen die Leidenschaften nicht zu Hause zu sein. Der nächste Raum, der Akt nennt sich „Die Ruhe vor dem Sturm“, ist zweigeteilt. Auf der einen Seite ist alles an seinem Platz, auf der anderen sind die Möbel auf einer schiefen Ebene angeordnet. Haben die Leidenschaften zu dieser Schieflage geführt?

Im dritten Akt „Wehe, wenn sie losgelassen“ offenbaren sie sich: Liebe, Begierde, Neid, Zorn, Scham, Ekel, Haß, Trauer, Freude, Staunen. Jene Leidenschaften, nach denen sich Menschen sehnen und vor denen sich fürchten, beherrschen die Szenerie. Ein Orkan ist aufgekommen. Die schöne Wohnung ist durcheinandergewirbelt. Sprachlos schaut sich der Besucher um. Zu welchen Handlungen hat sich der Mensch verführen lassen ... Jede Leidenschaft bildet eine Trümmerinsel. Auf einer liegt der Gipsabdruck einer toten Frau, und aus Scheren gebastelte große Spinnen drohen. Hier ist die Angst zu Hause. Den Neid symbolisiert eine Schublade voller Mercedes-Sterne.

Daß noch mal alles gutgegangen ist, erfährt der Besucher im vierten Akt „Am Tag danach“. Der Sturm ist abgeflaut, die Leidenschaften sind verschwunden, die Möbel notdürftig repariert und zurechtgerückt. Es scheint doch möglich, Leidenschaften zu zähmen. Schließlich gibt es Recht und Ordnung, Erziehung und Religion, Medizin und Hygiene. Aber kann man diesen kulturellen Errungenschaften trauen oder wird der Mensch wieder zum Tier?

Die Szenerie des letzten Aktes „In Mitleidenschaft gezogen“ überrascht mit einem Perspektivwechsel. Der Besucher befindet sich außerhalb der Wohnung, schaut durch Fenster auf die schon vertraute Szenerie. Gemütliches Licht brennt, der Tisch ist gedeckt. Der Gast ist eingeladen, sich auf eine der Bänke zu setzen und von da aus das Geschehen zu verfolgen oder über das bereits Erlebte nachzudenken. Das Stück ist zu Ende. Hat es aufgerüttelt? Eine Regieanweisung von Nichols hilft: „Dieser ewige Machtkampf zwischen Vernunft und Gefühl ist zwar spannend und auch Teil unserer Geschichte, aber geht denn es so nur? Reicht allein das Mitgefühl? Müssen wir nicht außerdem noch handeln? Alle ab. Der Vorhang fällt.“

Der Besucher steht wie am Beginn seines Spaziergangs in einem rot ausgekleideten Foyer, um aber das Theater verlassen zu können, muß er alle Akte erneut durchschreiten. Es ist lohnenswert, sich dabei Zeit zu nehmen und die vielen Exponate, kostbare wie profane, zu bewundern, die Nichols bei einer leidenschaftlichen Jagd durch europäische Museen für die Schau zusammengetragen hat und die alle von Leidenschaften erzählen. Da ist eine Schandmaske aus dem 17. Jahrhundert für einen Mann, der sich schweinisch benommen hat, ein Beil, das als Mordwaffe diente, ein von Urin und Schweiß beschmutztes Bettlaken. Einiges stammt aus den Depots des Hygiene-Museums. Beispielsweise eine weibliche Figur in Lebensgröße mit herausnehmbaren Organen: Da liegt das Herz als Ort der Liebe, und des Mitleids. Es wird an den Schreck erinnert, der einem in die Glieder fährt, an die Angst, die die Kehle zuschnürt. Nach dem Alten Testament sitzt der Zorn in der Nase. Andere Gefühle sind in der Milz, im Darm, Magen oder der Galle angesiedelt. Einiges läßt einen auch Lächeln. Und der Besucher merkt, die ganze Schau ist nichts anderes als eine kleine Apologie der Leidenschaften.

Die Ausstellung „Die Leidenschaften. Ein Drama in fünf Akten“ ist noch bis zum 30. Dezember im Deutschen Hygiene-Museum, Lingnerplatz 1, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Der Katalog mit 224 Seiten und rund 300 zum Teil farbigen Abbildungen kostet 24,90 Euro.

www.dhmd.de

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